Sie hat vier Jobs, schläft vier Stunden und isst nur zweimal pro Tag. Trotzdem reicht das Geld manchmal nicht. Die Reinigerin Elena Guarin sagt, was ein Mindestlohn von 23 Franken 90 für sie und ihre Söhne ändern würde.
MISERABEL BEZAHLT: Trotz Siebentagewoche reicht das Erwerbseinkommen für Elena Guarin nirgends hin. Ihr Grundlohn beträgt zurzeit 20 Franken und 20 Rappen pro Stunde. (Foto: Nicolas Zonvi)
Kurz vor fünf Uhr morgens muss Elena Guarin zu Hause weg. Denn vom aargauischen Fisibach bis nach Zürich hat sie eine Stunde. Mindestens. Und um sechs beginnt die Arbeit. Zwei Stunden lang putzt sie Büros. Dann fährt sie zur nächsten Arbeit: Halb neun bis halb elf putzt sie eine Disco. Jeden Tag, auch Samstag und Sonntag. Nur am Dienstag nicht, erklärt die 45jährige: «Am Montag ist die Disco zu. Darum putze ich am Dienstag das Haus einer Privatperson.» Weiter geht’s dann, wenn andere Feierabend haben: Von sechs Uhr abends bis halb neun oder neun reinigt sie erneut Büros.
Das sind rund 39 Arbeitsstunden pro Woche, verteilt auf sieben Tage. Doch damit nicht genug: «Manchmal rufen sie mich an, wenn im Hallenstadion ein Konzert war. Dann putzen wir in der Nacht, so ab zehn Uhr.» Wenn es bis zwei Uhr morgens dauert, fährt sie nach Hause. Wenn sie erst um vier fertig ist, schläft sie im Auto – ein, zwei Stunden. Denn um sechs beginnt wieder Job Nummer eins.
Elena Guarin kommt mit ihren vier Jobs auf rund 3400 Franken pro Monat.
STÄNDIGE GELDSORGEN
Im Schnitt habe sie etwa vier Stunden Schlaf pro Nacht, sagt die alleinerziehende Mutter mit kolumbianischem und spanischem Pass. Mehr als das plagen sie die ständigen Geldsorgen. Bei allen Arbeitgebern ist sie zum Grundlohn von 20 Franken 20 pro Stunde angestellt. Zwar kommen dazu noch Entschädigungen für Ferien, Feiertage und den 13. Monatslohn. Trotzdem kommt Guarin mit ihren vier Jobs nur auf rund 3400 Franken pro Monat. Brutto. Und zählt damit zu den Working Poor – Menschen, deren Einkommen trotz Vollzeitjob kaum oder gar nicht zum Leben reicht. 17 000 von ihnen gibt es allein in der reichen (und teuren) Stadt Zürich.
Mehr Respekt für die Putz-Büez
Der feministische Streik vom 14. Juni 2023 steht unter dem Motto «Lohn – Zeit – Respekt!»
Von allen drei könnte Elena Guarin mehr gebrauchen. Vor allem aber vermisst sie den Respekt vor dem, was sie macht. «Das wünsche ich mir: dass sich die Leute bewusst werden, wie wichtig unsere Arbeit ist.»
MINDERWERTIG. Immer wieder erlebe sie es, dass sie eine Wohnung putze und ein Stundenlohn von 30 Franken abgemacht sei. «Und wenn ich fertig bin, heisst es: Es gibt nur 23 Franken.» Solche Frechheiten erlaubten sich die Leute nur, weil das Putzen als minderwertige Arbeit angesehen werde, sagt sie: «Dem Sanitär sagst du auch nicht: Ich zahle nur 80 Prozent der Rechnung!» (che)
Doch damit könnte bald Schluss sein. Dank einer Initiative von Gewerkschaften und anderen Organisationen stimmt die Stadt am 18. Juni über einen gesetzlichen Mindestlohn ab. Er soll bei 23 Franken 90 pro Stunde liegen – einem Betrag, der sich an den Ergänzungsleistungen orientiert. Heute muss die öffentliche Hand zahlreichen Working Poor den Lohn mit Sozialhilfe aufstocken, weil er sonst nicht zum Leben reicht. Tiefstlöhne kommen somit auch die Gemeinden und die AHV-Kasse teuer zu stehen, ein Mindestlohn würde sie entlasten.
FÜR DIE SÖHNE TUT SIE ALLES
Elena Guarin bezieht keine Sozialhilfe. Sie sagt: «Das ist für Leute, denen es noch schlechter geht als mir. Ich schaffe das.» Aber knapp, denn viele Ausgaben sind fix: 1600 Franken Miete, 400 fürs Benzin, 340 für die Krankenkasse. Dazu kommen die Lebenskosten für ihre beiden Söhne, 25 und 21 Jahre alt. Beide studieren Informatik in Spanien, wo auch Guarin bis vor zwei Jahren gelebt hat. Jeden Monat überweist sie ihren Jungs 500 Franken, manchmal auch 700 – «was ich halt kann».
Zusammen mit Strom, Steuern und Handyabo sind das schon über 3000 Franken pro Monat. Und das Essen? Die Reinigerin lacht und sagt: «Für April habe ich mir vorgenommen, kein Essen zu kaufen.» Wie bitte? Guarin erklärt: In der Consulting-Firma, wo sie am Abend putze, habe es nach den Sitzungen jeweils Früchte, Salate, Sandwiches und so weiter übrig. «Die Chefs dort schauen zu uns.» Einer sei Portugiese, erzählt sie: «Der hat mir mal gesagt: Meine Eltern haben auch mit Putzen angefangen.»
«Für April habe ich mir vorgenommen, kein Essen zu kaufen.»
ZMITTAG IST GESTRICHEN
Mit diesen Resten komme sie meist gut über die Runden, so Guarin. Fast beiläufig ergänzt sie, sie esse halt nur zweimal am Tag, Frühstück und Abendessen. Wie das gehe, bei einer körperlich so anstrengenden Arbeit? Wieder zuckt Guarin die Schultern. Woher nehmen und nicht stehlen? Vielleicht bald von einem gesetzlichen Mindestlohn. Zusammen mit der Unia hat Guarin errechnet, dass dieser ihr Einkommen um 300 bis 400 Franken pro Monat verbessern würde. Was würde das ändern für sie? «Hombre! Bei mir wäre jeder Rappen ein Fortschritt! 300 Franken, das ist brutal viel Geld!» Sie könnte das essen, was sie mag. Sie würde vielleicht mal einen Einsatz im Hallenstadion auslassen und dafür richtig schlafen.
Und vor allem: «Ich würde nach Spanien fahren und meine beiden Söhne sehen!»
Frauenstreikzahl: 25 Prozent
weniger Lohn erhalten verheiratete Frauen im Vergleich mit verheirateten Männern. Im Alter zwischen 30 und 40 Jahren sind die Unterschiede am grössten. Aktuelle Zahlen des Bundes zeigen: Sobald Frauen Mütter werden, stagnieren ihre Löhne.