Ratgeber
Streiken wirkt! Aber es gibt Regeln

90 Prozent aller Streiks enden mit einem vollen­ oder teilweisen Erfolg. In der Schweiz ist das Streiken ein in der Verfassung verankertes Recht. Doch es gibt für Streikende Bedingungen, die sie zwingend einhalten müssen.

GEMEINSAM STARK: Der legendäre Baustreik von 2002 (hier die Baregg-Blockade) war ein voller Erfolg. (Foto: Keystone)

Klaus Pedruzzi ist frustriert: Die Arbeitsbedingungen in der Baufirma, bei der er seit fünf Jahren angestellt ist, sind schlecht. Er fühlt sich ausgenutzt: der Lohn ist zu tief, die Tage zu lang. Nur Arbeiten ohne Rechte? Nicht mit ihm! Er überredet seine Kolleginnen und Kollegen, nächste Woche einfach nicht arbeiten zu gehen. Schliesslich ist ja bald 1. Mai, und die Vorgesetzten sollen ruhig merken, was ihnen fehlt, wenn einfach niemand mehr da ist, der die Arbeit für sie erledigt.

Seit dem Jahr 2000 ist Streiken in der Schweiz ein in der Verfassung festgeschriebenes Recht. Und es ist ein wirkungsvolles ­Mittel. Bei 90 Prozent der Streiks erzielen die Beschäftigten gemeinsam mit den Gewerkschaften Erfolge. Berechtigte Forderungen lassen sich so durchsetzen, das hat die Geschichte schon oft gezeigt. Doch was Bauarbeiter ­Pedruzzi leider entgangen ist: ­Sogenannte wilde Streiks – also ohne Gewerkschaft – sind in der Schweiz nicht erlaubt. Er riskiert viel mit seinem Handeln und könnte sogar seine Stelle verlieren. Denn fürs Streiken gibt es ­Regeln.

Lohnersatz bezahlt die Gewerkschaft aus der Streikkasse.

STREIK ALS LETZTES MITTEL

Wenn es in einem Betrieb einen Konflikt gibt, dann braucht es zuerst Gespräche und Verhandlungen – am sinnvollsten mit Unterstützung der Gewerkschaft. Es darf nicht einfach gestreikt werden. Bei Gesamtarbeitsverträgen schreibt das Obligationenrecht zudem eine Friedenspflicht vor. Die Vertragsparteien sind verpflichtet, auf Streiks zu verzichten, solange der Vertrag gültig und ungekündigt ist. Umstritten ist, was gilt, wenn der Gesamt­arbeitsvertrag ausläuft und die Vertragsparteien über einen neuen Vertrag verhandeln. Nach Auffassung der Gewerkschaften ist dann die Friedenspflicht zu relativieren, weil sonst ja immer ein vertragsloser Zustand abgewartet werden müsste, bis die Arbeit­nehmer sich kollektiv für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen können.

Und für Streiks gibt es klare Regeln. Sie stehen zwar in keinem Gesetz, sind aber aus der gerichtlichen Praxis gewachsen: Klaus Pedruzzi hätte sich als erstes an die für seine Branche zuständige Gewerkschaft wenden sollen. Denn ein Streik muss von einer Gewerkschaft oder einem Angestelltenverband angeführt werden. Vor einem Streik müssen Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft und dem Arbeitgeber stattgefunden haben. Zweitens: Der Streik muss verhältnismässig sein. Das heisst, dass Streiken laut Bundesgericht erlaubt ist, wenn Verhandlungen gescheitert sind und es keine andere Möglichkeit mehr für eine Einigung gibt. Und drittens muss ein Streik klare Ziele verfolgen, zum Beispiel bessere Arbeitsbedingungen oder ­höhere Löhne.

Sind diese Bedingungen erfüllt, dürfen mit wenigen Ausnahmen alle Arbeitnehmenden streiken. Ausgenommen sind bestimmte Kategorien des Bundespersonals, darunter auch jene, die für den Schutz der Staatssicherheit zuständig sind, also zum Beispiel Mitglieder der Strafverfolgungsbehörde des Bundes oder das Zollpersonal.

KEINE NACHHOLPFLICHT

Eine der Kernaufgaben einer Gewerkschaft ist, Arbeitnehmende bei der Durchsetzung ihrer gerechtfertigten Anliegen zu unterstützen – wenn es nicht anders geht, auch mit Streik. Die streikenden Mitarbeitenden müssen die Arbeitsstunden nicht nachholen, haben für diese Zeit allerdings auch keinen Anspruch auf Lohn. Dafür gibt es Lohnersatz aus der Streikkasse der Gewerkschaft. Als Unia-Mitglied haben Sie im Falle eines Streiks Anrecht auf Lohnersatz.

Auch bei einer Protestaktion während laufender Verhandlungen darf der Arbeitgeber den Lohn aussetzen, wenn die Protestaktion während der Arbeitszeit stattfindet – auch dann kann die Gewerkschaft für den Lohnausfall aufkommen. Werden Angestellte aufgrund eines legalen Streiks entlassen, können sie die Entlassung anfechten.

work-Tipp: Was gilt am 1. Mai?

Auch am Tag der Arbeit darf nicht einfach so gestreikt werden. Wer auf die Strasse will und freihat, ist klar im Vorteil. Als Feier- respek­tive Ruhetag gilt der 1. Mai in den Kantonen Zürich, Basel-Stadt und Basel-Land, im Jura, Neuenburg, Schaffhausen, Thurgau und im Tessin. Im Kanton Solothurn ist ab Mittag frei, im Kanton Freiburg gilt der halbe Feiertag offiziell nur für Mitarbeitende im öffentlichen Dienst. Im Kanton Aargau ist der Tag kein offizieller Feiertag, dennoch wird in der Mehrzahl der Betriebe nur bis mittags gearbeitet. Wer am 1. Mai nicht freihat und dennoch auf die Strasse gehen möchte, spricht sich am besten mit seinen Vorgesetzten ab.

Entlassungen wegen Teilnahme am Streik sind missbräuchlich.

GRENZFALL FRAUENSTREIK

Wo das Gesetz auf die Realität trifft, gibt es Grauzonen und Grenzfälle. Wie den Frauenstreik zum Beispiel. Obwohl es vor dem grossen Streik 2019 seitens der Arbeitgeberverbände hiess, dass der Streik nicht rechtens sei, da es dabei nicht um Inhalte aus den Gesamtarbeitsverträgen ginge, legten sehr viele Frauen und unterstützende Männer ihre Arbeit nieder. Die allermeisten von ihnen bekamen danach keine Sanktionen aus der Chefetage zu spüren – kaum ein Unternehmen wollte es wohl riskieren, sich in der Öffentlichkeit unbeliebt zu machen und der Frauenfeindlichkeit verdächtigt zu werden. Und je mehr Mitarbeitende sich an einem Streik beteiligen, desto weniger Sanktionen haben sie zu befürchten.

Was Klaus Pedruzzi betrifft, so war sein Impuls, sich gemeinsam mit seinen Kollegen für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, goldrichtig. Aber er hätte ein paar Dinge mehr beachten müssen. Am besten hätte er sich gleich zu Beginn mit seiner Gewerkschaft beraten, dann verhandelt und – wenn nötig – zum richtigen Zeitpunkt gestreikt.


Vor jedem Streik Reden hilft. manchmal …

Ein Streik ist eine radikale Massnahme, die nötig ist, wenn nichts anderes mehr greift. Was Sie als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer tun können, um sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, bevor die Fronten verhärtet sind: Suchen Sie das Gespräch mit Ihrer Chefin oder Ihrem Chef. Erklären Sie ihr oder ihm, weshalb Sie unzufrieden sind und was Sie sich für Ihre Arbeitsstelle wünschen. Manche Dinge lassen sich vielleicht sofort ändern, oder die Sichtweise des Gegenübers schafft Verständnis für die gegenwärtige Situation. Sprechen Sie auch mit Ihren Kolleginnen und Kollegen: Wie empfinden sie die Arbeitsbedingungen? Legen Sie gemeinsam die nächsten Schritte fest. Je mehr Personen sich für das gleiche Anliegen einsetzen, desto grösser sind die Wirkung und der Druck auf den ­Arbeitgeber.

HILFE HOLEN. Wenden Sie sich frühzeitig an die für Ihre Branche zuständige Gewerkschaft. Eine Mitgliedschaft in einem Berufsverband oder einer Gewerkschaft darf Ihnen der Arbeitgeber nicht verbieten. Auch diese Rechte sind in der Verfassung festge­halten. Die Gewerkschaft steht Ihnen beratend zur Seite und führt für Sie die Verhandlungen mit dem ­Arbeitgeber. (mk)

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