Jean Ziegler
November 1975: Der spanische Diktator Francisco Franco Bahamonte liegt im Sterben in Madrid. In der Kolonie Spanisch-Westsahara tobt seit 1973 der Kampf zwischen der indigenen Befreiungsorganisation Polisario und der Kolonialmacht. Nach Francos Tod anerkennt die neue spanische Regierung die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie: 301 000 Quadratkilometer mit 275 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Aber in einem Geheimabkommen einigen sich die beiden Nachbarstaaten Mauretanien und Marokko auf eine Invasion und die Besetzung der ehemals spanischen Westsahara. Über 50 000 Sahraouis gelingt die Flucht. Sie erleiden die Tragödie des Exodus. Zehntausende Sahraouis fliehen in die Wüste, mit ihren Zelten, ihren Tieren. Die marokkanischen Bomber werfen Napalm auf die Lager, verbrennen Tausende von Kindern und Frauen. Nach monatelanger Irrfahrt erreichen die Überlebenden die algerische Grenze. Auf der Hamada (Hochebene) von Tindouf erhalten sie Gastrecht und bauen ihre letzten Zelte auf.
Marokkos Bomber warfen Napalm auf die Nomadenlager, Tausende Frauen und Kinder verbrannten.
SABOTEUR. Die Sahraouis sind ein mysteriöses, hochkultiviertes Nomadenvolk, das über die Jahrhunderte in völliger Unabhängigkeit lebte, mit hochkomplexen, staatenlosen Sozialstrukturen bis zur spanischen Eroberung 1901. Auf der Hamada von Tindouf gründeten die Überlebenden der Massaker von 1975 die République Arabe Sahraouie Démocratique (RASD). 90 Prozent ihres Nationalterritoriums sind heute von der marokkanischen Armee besetzt. Und von den zwangsweise aus marokkanischen Elendsvierteln deportierten Zuwanderern. Zwischen den marokkanischen Besetzern und der Befreiungsarmee der Sahraouis herrscht Krieg, mit unterschiedlicher Intensität, seit 47 Jahren.
Die Uno ist machtlos. Sie unterhält entlang den immer wieder durchbrochenen Waffenstillstandslinien eine Blauhelmtruppe. Sie fordert die Durchführung eines Referendums zur Selbstbestimmung. Umsonst. Unterstützt von Frankreich, den USA und Israel, sabotiert Mohammed VI., der König von Marokko, jeden Friedensprozess.
FREILASSUNG. Seit Beginn dieses Jahres ist die Schweiz für zwei Jahre nichtpermanentes Mitglied des Uno-Sicherheitsrates. Kommenden Mai diskutiert der Rat den MINURSO-Bericht (Bericht der Missionen in der Westsahara). Spätestens dann muss die Schweiz Partei ergreifen. Bis anhin hat sie sich auf die bitter nötige humanitäre Hilfe beschränkt. In Algier hat die Schweiz mit Pierre-Yves Fux einen ausserordentlich kompetenten, engagierten Botschafter. Im März reiste er mit einer EDA-Delegation nach Tindouf. Er erwirkte eine willkommene Erhöhung des Schweizer Beitrages an das Uno-Welternährungsprogramm. Aber eine andere dringliche Aufgabe steht der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat bevor: der Kampf um die Freilassung Dutzender von der marokkanischen Geheimpolizei verhafteter politischer Gefangener. Nach schwerer Folter werden sie jeweils in Willkür-Prozessen von der marokkanischen Militärjustiz verurteilt. Meist zu lebenslangen Gefängnisstrafen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) forderte jahrelang ein Besuchsrecht. Umsonst. Heute hat das IKRK sein Büro in Rabat geschlossen.
Die Schweiz muss im kommenden Monat die marokkanische Terrorjustiz im Uno-Sicherheitsrat anklagen und die sofortige Freilassung der Sahraouis erwirken.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.
Ich möchte mich bei Jean Ziegler und dem Work-Team für die Publikation des Textes bedanken. Die Sahraouis sind wirklich auf mehr Beachtung in den Medien angewiesen.
Sahara libre!
Schon das Wort „Befreiungsorganisation“ ist bescheuert.