Jean Ziegler
Seit dem vergangenen 1. Mai präsidiert die Schweiz den Uno-Sicherheitsrat. Pascale Baeriswyl ist seit 2020 die hochkompetente Schweizer Botschafterin in New York. Im Gespräch mit Medienschaffenden sagte Baeriswyl: Das Präsidium sei weitgehend «protokollarisch».
EIGENINITIATIVE. Das ist falsch: andere neutrale Staaten haben in der Vergangenheit den Sicherheitsrat präsidiert. Sie haben gezeigt, dass Eigeninitiative in der Präsidentschaft Erstaunliches bewirken kann. Beispiele: Schweden hat die Frage der Selbstbestimmung des kurdischen Volkes zu einem permanenten Thema der Uno-Agenda gemacht. Österreichs Präsidentschaft hat wesentlich dazu beigetragen, dass Jahre später die palästinensische Autonomiebehörde das Völkerrechtsstatut eines Beobachter-Staates erhielt.
Botschafterinnen üben ein imperatives Mandat aus. Das heisst, sie stimmen nach Anweisung ihres Aussenministeriums. Das Problem der Verweigerung einer offensiven Politik liegt also bei Aussenminister Ignazio Cassis.
Cassis wurde als FDP-Bundesrat dank den Stimmen der SVP gewählt. Bei den bevorstehenden eidgenössischen Wahlen steht es ungünstig für die freisinnige Partei. Die SVP-Geiselnahme von Cassis wird dadurch verstärkt.
Cassis steht unter Geiselnahme der SVP.
BREMSKLOTZ. Die SVP war gegen den schweizerischen Uno-Beitritt 2002. Auch die Schweizer Kandidatur für den Sicherheitsrat bekämpfte die SVP vehement. Noch 2022 verlangte SVP-Präsident Marco Chiesa eine Sondersession der Bundesversammlung mit dem Versuch, die Ratskandidatur der Schweiz rückgängig zu machen. Glücklicherweise umsonst.
VERHINDERER: Aussenminister Iganzio Cassis verweigert eine offensive Politik der Schweiz während ihres Präsidiums des Uno-Sicherheitsrates. (Foto: Keystone)
Das SVP-Argument ist seit 2002 immer dasselbe: Die Schweiz sei ein kleines, aussenpolitisch unbedeutendes Land, das sich als permanent neutraler Staat aus der multilateralen institutionellen Politik heraushalten solle. Die SVP liegt grundfalsch. Zwar stimmt es leider, dass die Arbeit unserer Diplomatinnen und Diplomaten in der helvetischen Öffentlichkeit kaum Beachtung findet. Die schweizerische Diplomatie ist jedoch international hochgeschätzt. Sie ist aktiv und häufig erstaunlich erfolgreich. Wir haben im Vergleich zur Bevölkerungszahl mit 170 Vertretungen eines der dichtesten diplomatischen Netzwerke der Welt.
VETORECHT. Zahlreiche friedenstiftende Missionen haben Tausende von Menschenleben gerettet. Ohne die Schweizer Diplomaten wäre zum Beispiel der Frieden zwischen der kolumbianischen Guerrilla-Armee Farc und der Regierung von Bogotá nie zustande gekommen. Dasselbe gilt für den ersten Waffenstillstand zwischen der Tuareg-Befreiungsfront Azawa und der Regierung von Mali. Dazu kommt die Praxis der Interessenvertretung. Beispiel: Die Schweiz vertritt Teheran in Washington und umgekehrt, Kuba in den USA und umgekehrt usw.
Die Uno ist gelähmt durch das Vetorecht der fünf permanenten Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates. Die dringlichste Initiative ist die Einberufung der Uno-Reformkonferenz (Artikel 108 und 109 der Charta). Das Vetorecht soll aufgehoben werden in allen Konflikten, in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Der Ex-Staatssekretär und gegenwärtige ETH-Professor Michael Ambühl und ETH-Professorin Nora Meier haben den Reformprozess detailliert ausgearbeitet. Alles, was es braucht, ist das Erwachen von Ignazio Cassis.