Ein Beinahe-Konkurs, Fehlbesetzungen und zahllose Kündigungen: Das Debakel der Spitex St. Gallen ist beispiellos. Doch der Verwaltungsrat und die zuständige Stadträtin sehen die Schuld nur bei den anderen.
ANSPRUCHSVOLL: Spitex-Mitarbeitenden wird im Alltag sehr viel abverlangt. Da mag es keine Führung leiden, die ihnen in den Rücken fällt (Symbolbild). (Foto: Keystone)
Am Schluss kam der grosse Knall. Am 26. Mai trat der gesamte Verwaltungsrat der Spitex St. Gallen zurück. Das ist der vorläufige Tiefpunkt für einen Betrieb, der in Sachen Skandale sogar der verblichenen Credit Suisse Konkurrenz macht.
«Die Interims-Chefin hat den Betrieb so autoritär geführt wie eine Bulldogge.»
März 2021: Kündigungswelle
Anfang 2021 fusionieren Stadtregierung und Parlament die bisher vier Spitex-Vereine zu einer Firma. Schon von Anfang an rumort es. Mitarbeitende kritisieren, es gehe den neuen Chefs nicht um die Klientinnen und Klienten, sondern ums Geld. Fachwissen und Erfahrung seien nicht mehr gefragt, Dialog ebenfalls nicht. 22 Pflegende kündigen. Doch die zuständige Stadträtin Sonja Lüthi (GLP) wiegelt ab: «Gewisse Wechsel sind bei einer Reorganisation immer zu erwarten.»
Mai 2022: Der Chef geht
Nach nur fünf Monaten wirft auch der Geschäftsführer das Handtuch. «Interimistisch» leitet ab sofort Verwaltungsrätin Anna Ravizza den Betrieb, tatsächlich wird sie fast zwei Jahre bleiben. Stadträtin Lüthi spricht von einer «sehr guten Übergangslösung».
Zahlreiche Mitarbeitende sehen das anders. Fatime Zekijri von der Unia Ostschweiz hat mit vielen von ihnen gesprochen und sagt: «Ravizza hat den Betrieb autoritär geführt wie eine Bulldogge. Raum für Diskussionen gab es nicht. Bei Problemen war nie die Spitex schuld, sondern alle anderen.»
2022: Die Qualität leidet
Anfang 2022 kommt ans Licht: Von 128 Mitarbeitenden haben im ersten Betriebsjahr 87 gekündigt – zwei Drittel der Belegschaft. Die Reklamationen häufen sich. Pflegerin Gabriela Marti* berichtet: «Der Betrieb setzte immer mehr Temporäre ein, ohne sie richtig einzuarbeiten.»
Auch die Einsatzplanung sei aus dem Ruder gelaufen: «Statt dass ich jemanden wie abgemacht zwischen 9 und 11 Uhr besuchte, musste ich schon am frühen Morgen klingeln. Oder ich konnte erst kurz vor Mittag vorbeigehen, obwohl die Person am Morgen Hilfe beim Waschen und Anziehen brauchte.»
Frühling 2022: Millionenloch in der Firmenkasse
Die Firma, zum Start von der Stadt St. Gallen mit über 4 Millionen Franken ausgestattet, steht nach gut einem Jahr kurz vor dem Konkurs. Die Stadt muss 3 Millionen nachschiessen. Die Schuld dafür sieht Verwaltungsratspräsident Daniel Mächler bei den Mitarbeitenden. Genauer bei «nicht vorhersehbaren» Kosten für Schulungen. Denn «das Wissen der Mitarbeitenden in Sachen Digitalisierung» habe nicht den Erwartungen entsprochen.
Oktober 2022: Eskalation statt runder Tisch
Im Oktober 2022 machen erneut Mitarbeitende die Verantwortlichen auf Missstände aufmerksam. Diese reagieren mit Eskalation (siehe Text unten).
Mai 2023: Falsch abgerechnet
Die Krankenkasse Helsana stellt eine Rückforderung an die Spitex, weil diese falsch abgerechnet hat. Erneut schiebt VR-Präsident Mächler die Schuld den Mitarbeitenden in die Schuhe, sie hätten «unpräzise» Rapporte eingereicht.
Mai 2023: Es reicht – endlich
Der neue Geschäftsführer, erst seit sechs Wochen im Amt, nimmt den Hut. Via «St. Galler Tagblatt» tritt Mächler nach: Der Mann habe «die Vorgesetztenrolle des Verwaltungsrats nicht akzeptiert». Es könne sein, dass man die falsche Person ausgesucht habe, sagt er weiter. Doch Selbstkritik ist das nicht, denn: «Man sieht nicht hinter das Gesicht eines Menschen.» Jetzt reicht’s, endlich. Von links bis rechts hagelt es Kritik am Verwaltungsrat. Zwei Wochen später treten Mächler und Co. zurück.
Und GLP-Frau Sonja Lüthi? Zusammen mit der Stadtregierung findet sie, schuld am Scherbenhaufen sei die «äusserst kritische bis negative Haltung» gegenüber der Spitex. Fehler des Verwaltungsrats? Nix da: Die Spitex sei «unter Daniel Mächlers
Leitung auf gutem Weg gewesen», das Klima unter den Mitarbeitenden «positiv».
*Name geändert
Es ist immer das gleiche Phänomen. Führungskräfte mit ganz viel eingekaufter Weiterbildung, daneben null unbewusstes Erfahrungswissen, blenden Arbeitgeber. Wenn es dann nicht klappt, sind alle verdattert und schauen konsterniert auf all die Papiere und Diplömli und können es sich nicht erklären. Es braucht eben immer noch ein anständiger Mensch dahinter.