Am Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) in Berlin sorgte die Jugend für frischen Wind, und die Frauen setzten neue Akzente. work war in Berlin mit dabei.
MEHR MACHT DER JUGEND: Die jungen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gaben am EGB-Kongress in Berlin mit kämpferischen Reden den Ton an. (Foto: ZVG)
Wer gedacht hatte, der Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbunds in Berlin vom 23. bis 27. Mai werde aus langweiligen Berichten und rituellen Abstimmungen bestehen, wurde eines Besseren belehrt. Für frischen Wind sorgte die Gewerkschaftsjugend. Dutzende junge Aktivistinnen und Aktivisten traten ans Kongresspodium und rissen die Delegierten mit ihren kämpferischen Reden mit. Zudem setzten sie eine Quote von Jüngeren in den Delegationen zukünftiger Kongresse durch. Denn: «Die Jugend ist nicht nur die Zukunft – wir sind auch die Gegenwart!»
Die Regierungen sind schon wieder daran, Sparpakete für 2024 zu schnüren.
ES GEHT VORWÄRTS
Der Kongress ist auch weit weiblicher geworden. Vor vier Jahren war noch kein Drittel der Delegierten Frauen, in Berlin nun mehr als die Hälfte! Auch dies drückte sich in Dutzenden Voten aus. Natürlich gegen zu tiefe und ungerechte Löhne, gegen die Prekarisierung, gegen die fehlende Anerkennung der Care-Arbeit, aber auch für die Stärkung des Service public und vieles mehr. Der Tenor: «Uns wird nichts geschenkt – wir müssen uns jeden Fortschritt gemeinsam erkämpfen.» So war die Wahl der toughen Irin Esther Lynch zur neuen Generalsekretärin des EGB kein Zufall.
Die letzten drei Kongresse des EGB waren durch Krisen und die rigide Sparpolitik geprägt gewesen. Die meisten Delegierten klagten damals die staatliche und unternehmerische Politik an, die zur Deregulierung der Arbeitsbeziehungen und zum Abbau beim Sozialstaat geführt hatten. Die Forderungen der Gewerkschaften nach einer offensiven Wirtschaftspolitik mit Investitionen und ökologischem Umbau waren in den meisten europäischen Ländern abgeschmettert worden wie auch jene nach mehr gewerkschaftlicher Mitsprache. Nun, am Kongress in Berlin, konnten die Gewerkschaften seit langem wieder Fortschritte vermelden: Ausbau der Arbeitslosenversicherung in der Covid-Krise, ein 700-Milliarden Investitionsprogramm, einen Green-Deal und schliesslich die Richtlinie zum europäischen Mindestlohn und zur Förderung von Gesamtarbeitsverträgen. Dazu meinte ein Delegierter: «Wir hatten in der langen Krisenzeit schon fast nicht mehr daran geglaubt, dass wir uns bei so wichtigen Fragen durchsetzen könnten.»
KEINE VERSCHNAUFPAUSE
Aber den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in Berlin ist klar, dass Schulterklopfen fehl am Platz ist. Denn schon ziehen neue Gewitter auf: Die Inflation hat in vielen Ländern die Lohnerhöhungen weggefressen. Und die Regierungen sind schon wieder daran, Sparpakete für 2024 und danach zu schnüren.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat dazu eine Dringlichkeitsresolution angeregt und gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Österreich und Zentraleuropa eingereicht. Die Resolution verlangt eine europaweite Kampagne für mehr Lohn und gegen die Sparpolitik. Im gleichen Sinne intervenierte die italienische CGIL. Der EGB müsse auf diesen Herbst zu einem europäischen Aktionstag aufrufen.
Die beiden Resolutionsvorschläge wurden zusammengelegt und später vom Kongress einstimmig angenommen. Der Herbst wird also europaweit von gewerkschaftlichen Mobilisierungen geprägt sein.
*Andreas Rieger ist Ex-Co-Präsident der Unia und langjähriger work-Autor.
93 Gewerkschaftsbünde unter einem Dach Das ist der EGB
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) besteht seit 50 Jahren. Er umfasst 93 Gewerkschaftsbünde aus 40 europäischen Ländern mit 45 Millionen Mitgliedern. Neu aufgenommen wurden am Kongress in Berlin mit einer Standing Ovation zwei Bünde aus der Ukraine und einer aus Moldawien. Aus der Schweiz sind der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und Travailsuisse dabei.
NEUER PRÄSIDENT. Ebenfalls Mitglieder sind zehn europaweite Gewerkschaftsföderationen, die Branchenverbände umfassen. So z. B. Industriall (Industrie) und UNI Europa (Dienstleistungen). Zum Präsidenten des EGB wurde neu der Österreicher Wolfgang Katzian gewählt, ein langjähriger Freund der Schweizer Gewerkschaften und Verteidiger der flankierenden Massnahmen. (ar)