Jean Ziegler
Im vergangenen Januar stiegen die Krankenkassenprämien im Landesdurchschnitt um 6,6 Prozent. Für den kommenden Herbst kündigt der Bundesrat eine neuerliche massive Prämienerhöhung an. Für viele Tausende von Familien – auch solche mit mittlerem Einkommen – wird die obligatorische Krankenversicherung zum Albtraum.
ASTRONOMISCH. Die obersten Chefs der grössten Krankenkassen garnieren hingegen astronomische Saläre und üppige Spesenvergütungen. Die Geschäftsberichte der Kassen müssen diese skandalösen Summen offenlegen. Zum Beispiel Andreas Schönenberger, Chef der Kasse Sanitas: 2022 erhielt er 956 486 Franken. Dabei gehört Sanitas zu den kleineren Kassen. Und Schönenbergers Salär rechtfertigt sich auch nicht durch ausgewiesene Erfahrung im Gesundheitswesen: Vor seinem Eintritt bei Sanitas arbeitete er beim Telekomanbieter Salt.
Die zehn ersten Kassen-Moguln garnieren allesamt eine grössere Jahresentschädigung als ein Bundesrat. Groupe-Mutuel-Chef Thomas Boyer bezieht 800 000 Franken; Rico Dahinden von Swica, Roman Sonderegger von Helsana, Ruedi Bodenmann von Assura weisen ebensolche Bezüge aus. Die CSS-Chefin, Philomena Colatrella, kommt auf 725 000 Franken Jahresgehalt.
Die zehn ersten Kassen-Moguln garnieren allesamt pro Jahr mehr als ein Bundesrat.
BEDEUTSAM. Wer bezahlt diese fürstlichen Saläre? Wir, die Prämienzahlerinnen und -zahler. Dieser Skandal bewegt die Öffentlichkeit. Im Parlament ist es insbesondere die SP, welche die total übertriebenen Einkünfte der Krankenkassen-Bonzen per Gesetz beschränken will. Und siehe da: in einer ersten Runde war sie erfolgreich. SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen ist Präsidentin der schweizerischen Patientenorganisation. In der Gesundheitskommission des Nationalrates errang sie einen bedeutsamen Sieg: Die Motion der Kommission wurde im Rat angenommen.
Was will die Motion? Die Chef-Saläre auf 250 000 im Jahr beschränken. Die Verwaltungsrätinnen und -räte der Kassen – häufig amtierende Nationalrätinnen oder Ständeräte – erhalten zukünftig maximal 50 000 Franken im Jahr.
VERLOGEN. Doch am 6. Juni versenkt die Gesundheitskommission des Ständerates die nationalrätliche Motion. Vier Fünftel der Mitglieder der Gesundheitskommission des Ständerats sitzen fürstlich entlöhnt in den Verwaltungsräten. Der Ständerat verweist auf die parlamentarische Initiative von SP-Nationalrat Baptiste Hurni, die die Bestimmung des Maximallohnes dem Bundesrat überlässt.
Mir scheint dieser Lösungsvorschlag ziemlich verlogen. Denn die bürgerliche Mehrheit des Bundesrates hat bereits mehrmals gegen die Lohnbindung opponiert. Ihr Argument: Die Verfassung garantiere die Wirtschaftsfreiheit. Das ist absurd. Die Krankenkassen sind zwar privatrechtliche Institutionen. Aber in der Schweiz herrscht per Gesetz das Kassenobligatorium. Die Wirtschaftsfreiheit ist hier ohnehin eingeschränkt.
Niemand weiss, wie der Kampf in Bern ausgehen wird. Aber in einer Demokratie zählt die öffentliche Meinung. Es liegt an jeder und jedem von uns, dass der Krankenkassenskandal endlich ein Ende nimmt.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.