Die meisten Leute in der Schweiz leben von einem Lohn. Mit ihm zahlen sie ihre Einkäufe, ihre Miete, ihre Krankenkasse. Seit Mai 2020 haben sich die Preise um fast 6 Prozent erhöht. Die Krankenkassenprämien sogar noch etwas mehr. Die Löhne hingegen stiegen nur halb so stark, nämlich um rund 3 Prozent. So haben die Arbeitenden heute real weniger Geld als im Jahr 2020. Das heisst: Obwohl sie etwas mehr Lohn auf dem Konto haben, können sie wegen der höheren Preise und der gestiegenen Krankenkassenprämien weniger kaufen.
HISTORISCH TIEF. Dieser Kaufkraftverlust tut weh. Der mittlere Lohn in der Schweiz beträgt knapp 6700 Franken im Monat. Eine Reallohneinbusse von 3 Prozent bedeutet für die Betroffenen einen Kaufkraftverlust von fast 2500 Franken pro Jahr. Und darin sind die höheren Krankenkassenprämien noch nicht enthalten. Wegen des Prämienschocks hat ein Paar mit zwei Kindern nochmals rund 700 Franken weniger Geld zur Verfügung.
Solche Reallohnverluste wie in den letzten drei Jahren gab es in der neueren Zeit noch nie. Im Gegenteil: Seit Beginn der Schweizer Lohnstatistiken in den 1940er Jahren ging es vor allem aufwärts. Drei negative Jahre sind hingegen einzigartig.
Die Arbeitgeber spielen das Problem herunter und versuchen ganz gezielt, von ihrer eigenen Rolle abzulenken. Auch sie seien von der Teuerung betroffen, sagen sie. Zudem seien die Löhne in den Vorjahren real gestiegen. Tatsächlich aber fällt die Teuerung nicht vom Himmel: Teuerung heisst konkret, dass die Schweizer Firmen die Preise erhöht haben. Die meisten haben die Preise sogar stärker erhöht, als ihre Kosten gestiegen sind, und streichen damit sogar noch höhere Margen ein als bisher.
LOHNERHÖHUNG VERDIENT. Es stimmt, dass die Reallöhne in manchen Jahren vor 2020 gestiegen sind. Die Arbeitnehmenden haben sich diese Reallohnerhöhungen auch verdient. Weil sie produktiver geworden sind. Sie leisten Jahr für Jahr rund ein Prozent mehr. Die Chefs können daher mit demselben Personalbestand ein Prozent mehr Waren und Dienstleistungen herstellen oder verkaufen. Die Arbeitenden müssen an diesem Produktivitätsanstieg beteiligt werden. Darum braucht es nicht nur den vollen Teuerungsausgleich, sondern auch Reallohnerhöhungen von rund einem Prozent pro Jahr.
In der nächsten Lohnrunde muss es einen Schub geben. Damit auch die Arbeitenden ihren Anteil an der guten Wirtschaftsentwicklung erhalten.
Daniel Lampart ist Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB).