Jean Ziegler
Die Schweiz ist zuweilen ein faszinierendes Land. Zum Beispiel Thun. Die Stadt kämpft um ihr Geschichtsbewusstsein. Das urälteste und traditionsreichste Hotel der Stadt heisst «Freienhof» und gehört den Gewerkschaften. Der Verwaltungsrat will den Namen aus verständlichen kommerziellen Gründen ändern. Das Haus soll zukünftig «Aare-Hotel» heissen. Diese Umtaufe führt zu einer vehementen Rebellion geschichtsbewusster Thunerinnen und Thuner. Der Konflikt ist interessant und lehrreich. Er ist ein Zeichen lebendiger Demokratie.
Ein lebendiges Gedächtnis ist lebenswichtig für jede Gemeinschaft.
LEHRREICH. Wie wohl die meisten ausgewanderten Thuner bleibe ich meiner wunderschönen Heimatstadt sehr verbunden. Ich habe das «Thuner Tagblatt» abonniert und verfolge gegenwärtig die äusserst lebhafte Kontroverse betreffend die geplante Umbenennung des Hotels Freienhof.
Wenn ich in Thun bin, übernachte ich stets im «Freienhof» und bin immer beeindruckt von der Gastfreundschaft und der kompetenten Führung des Hauses. Ich verstehe durchaus die kommerziellen Argumente, die für die Umbenennung sprechen. Aber in diesem Fall geht es um mehr.
GEDÄCHTNIS. In historischen Schriften ist ein Gasthaus mit Güterumschlag- und Lagerplatz erstmals 1308 erwähnt. Markus Krebser hat als Historiker und Autor wertvoller Bildbände das kollektive Gedächtnis unserer Stadt bereichert. Er zeigt überzeugend, wie wichtig das altehrwürdige Haus Freienhof ist. 1488 wird das Haus in einem Brief vom Rat aus Bern an den Schultheissen von Thun erwähnt. In seinen Anfängen war der «Freienhof» nebst Hotel, Restaurant, Gericht und Güterumschlagplatz auch Zollstelle, Fischmarkt, Tanzlokal, Freimaurerloge, Poststelle und Freudenhaus. 1947 kaufte die Genossenschaft Hotel Freienhof der Arbeiterunion Thun das prominent gelegene Gebäude. 2001 erfolgte die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft.
Im Talmud von Babylon steht der mysteriöse Satz: «Die Zukunft hat eine lange Vergangenheit.» Ein lebendiges Gedächtnis ist lebenswichtig für jede menschliche Gemeinschaft. So auch für die Thunerinnen und Thuner.
SCHUTZ. Dazu kommt für mich persönlich ein anderes Motiv, die Umbenennung zu unterlassen: die Erinnerung an die segensreiche Funktion des Hauses seit dem späten Mittelalter. Wie der Historiker Peter Niederhauser nachzeichnet, war der «Freienhof» ursprünglich ein Ort des Asyls. Der Begriff «Freienhof» bezieht sich auf die sogenannten «Freyungen». Damit war Schutz vor willkürlicher Verfolgung gemeint.
An den heutigen europäischen Aussengrenzen werden jeden Tag Flüchtlinge aus kriegszerstörten Ländern von der EU-Grenzpolizei Frontex (die mit jährlich 61 Millionen Franken Steuergeld von der Schweiz finanziert wird) gewalttätig am Hinterlegen eines Asylantrages gehindert. Tausende ertrinken. Das universelle Menschenrecht auf Asyl für gepeinigte Männer, Kinder und Frauen wird weitgehend liquidiert.
Deshalb ist gerade jetzt das Wort «Freienhof», Ort des Asyls, so wichtig. Als Erinnerung und Auftrag. Die internationale Solidarität ist die DNA der Gewerkschaften.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.