Respekt, mehr Lohn, mehr Zeit: Das forderten Hunderttausende Frauen und solidarische Männer am 14. Juni nicht nur mit gewaltigen Demonstrationen, sondern auch mit Protestpausen und Aktionen am Arbeitsplatz. work war dabei.
WESSEN STRASSEN? UNSERE STRASSEN!»: In Bern brachten Zehntausende Frauen die Bundeshauptstadt zum Beben. Mit an der Spitze: Unia-Chefin Vania Alleva (links). (Foto: Freshfocus)
Luxus-Hotel, Zürich: Tick-tack, Frauenstreik!
Eine tickende Uhr, ein zerwühltes Bett mitten auf der Strasse, anonyme Hotelgäste und ein Schild mit dem Schriftzug «Luxus-Hotel». Ein irritierendes Bild für die Passantinnen und Passanten, die am Morgen dieses 14. Juni auf der Bahnhofstrasse in Zürich unterwegs sind. Doch für Adryelle da Silva* ist diese Inszenierung vor dem Hotel St. Gotthard kein Theater, sondern ungeschminkte Realität. Als die gebürtige Brasilianierin vor fünf Jahren aus Italien in die Schweiz kam, begann sie mit dem Job als Reinigerin im Viersternehotel St. Gotthard.
ZEITDRUCK UND STUNDENKLAU. Adryelle da Silva sagt: «Ich habe an einem Tag 21 Zimmer saubergemacht. 12 Stunden habe ich am Stück gearbeitet mit nur einer halben Stunde Mittagspause.» Sie sei kein Einzelfall. Viele Luxushotels lassen ihre Zimmer von externen Firmen reinigen. Die Mitarbeitenden dieser Unternehmen werden häufig nach geputzten Zimmern bezahlt, obwohl das illegal ist. «Für ein Zimmer hatte ich 20 Minuten Zeit. Und pro Zimmer habe ich 7 Franken erhalten.» sagt Adryelle. «Ich war so kaputt und habe heute auch oft Rückschmerzen von dieser Arbeit.» Und dann hätten auch mal 1500 Franken in ihrer Lohnzahlung gefehlt. «Das war der Moment, als ich Unia-Mitglied wurde!» Inzwischen arbeitet Adryelle in einem anderen Hotel in Winterthur, wo sie direkt angestellt ist. Doch als Migrantin erlebe sie auch heute noch Sexismus, Rassismus, Mobbing und Stress bei der Arbeit. Für Melina Jacoby* sind die Chefs das Schlimmste am Job: «Sie nennen uns dumme Frauen, weil wir reinigen. Sie schreien uns an und haben keinen Respekt.»
«WIR HABEN GENUG!» Auch das feministische Gastra-Kollektiv der Gastroarbeiterinnen ist sauer auf die Chefs. «Scheiss-Chefs überall, Gastro und Reinigung bringen euch zu Fall!» singen die jungen Frauen im Chor auf dem Europaplatz. Putzen, servieren, lächeln bis spät in die Nacht: Die schlechtbezahlte Arbeit in der Gastro wird oft noch mühseliger, weil sich auch Gäste häufig abschätzig oder sexistisch verhalten. Violeta Ruoss, Co-Leiterin der Unia-Region Zürich-Schaffhausen, die die Aktion koordiniert, sagt: «Wir haben es in der Hand, und wir wollen diese Zustände ändern.»
Der gemeinsame Marsch durch die betriebsame Bahnhofhalle verspricht vieles für diesen feministischen Streiktag und auch darüber hinaus – getreu dem Motto des Kollektivs für den Frauenstreik 2023: «Wir haben genug!» (isc)
*Name geändert
Coop City, Basel: Für einen Moment den Stress vergessen
Zeit hat eigentlich niemand. Die meisten Verkäuferinnen und Verkäufer im Coop City am Basler Marktplatz sind auch an diesem 14. Juni unter Druck. Das ist auch gut spürbar, als das Unia-Team durch die Etagen geht und mit allen spricht. Viele sind allein für eine ganze Abteilung verantwortlich. Doch Unia-Frau Marijana Radmanovac und ihre Kolleginnen leisten Überzeugungsarbeit: «Wir sind hier, damit auch Frauen mit dem Streik solidarisch sein können, die heute arbeiten. In fünf Minuten machen wir ein Foto mit allen im Pausenraum! Kommst du auch?»
OHNE ZÖGERN. Über dem Arm trägt sie eine Ladung pinke T-Shirts. Eine Verkäuferin liest den Slogan: «Respekt, mehr Lohn, mehr Zeit». Stimmt! findet die Frau in den Dreissigern. Aber aufs Foto? Also gut, sagt sie nach anfänglichem Zögern. Sofort mit dabei ist die Reinigerin. Sie parkiert ihr Putzwägeli, zieht das T-Shirt über und marschiert los zum Pausenraum im obersten Stock.
Dort herrscht eine fröhliche Stimmung. Auch ein solidarischer Verkäufer hat sich angeschlossen. Für ein paar Minuten ist der Zeitdruck vergessen. In diesem kurzen Ausnahmezustand sind sie verbunden. Miteinander und mit allen Frauen an diesem Frauenstreik-Tag. (che)
Tertianum, Dotzigen BE: «Wir wollen endlich gehört werden!»
Foto: Unia
Das Tertianum-Heim liegt im idyllischen Dotzigen im Berner Seeland. Alles andere als idyllisch sind dagegen die Arbeitsbedingungen der Pflegenden: Personalknappheit, Dauerstress, kurzfristige Einsatzpläne. Und zwar seit Jahren. Und ebenso lange suchen die Mitarbeitenden das Gespräch mit der Heimleitung. Doch Verbesserungen gab es kaum. Im Gegenteil, wie eine Pflegerin zu work sagt: «Der Dauerstress wegen zu wenig Personal ist in den vergangenen Monaten sogar noch heftiger geworden.»
Die Heimleitung brach im Herbst gar die Gespräche ab. Nach einer ersten öffentlichen Protestaktion der Pflegenden traf sich dann eine Delegation der Mitarbeitenden im Februar mit der Regionalleitung der Tertianum-Gruppe.
ULTIMATUM. Trotz Zusage weiterer Gespräche über bessere Arbeitsbedingungen ging es nicht vorwärts, die Pflegenden wurden weiter vertröstet. Die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mandatierte Unia schrieb Tertianum darauf am 11. Mai einen Brief und verlangte ernsthafte Verhandlungen über die Forderungen der Dotzinger Pflegenden und stellte ein Ultimatum für eine Antwort. Diese traf am letzten Tag der Frist ein – am 31. Mai um genau 17.49 Uhr. Aussage: «Kein Interesse an direkten Gesprächen.»
WEITERE AKTIONEN. Diese Respektlosigkeit wollen sich die Pflegerinnen und Pfleger nicht gefallen lassen. Am 14. Juni verlängerten rund 20 von ihnen aus Protest die Mittagspause und übergaben ihren Forderungskatalog und eine erneute Gesprächsaufforderung der Heimleitung. Und was, wenn sich die Tertianum-Verantwortlichen weiterhin taub stellen? «Dann haben wir noch andere Aktionen in petto. Wir wehren uns weiter gegen die unmöglichen Arbeitsbedingungen», sagte eine Pflegerin nach der Protestpause und: «Wir wollen endlich gehört werden!» (cs)
Geriatrische Klinik St. Gallen: Streik-Falafel und Italianità
Foto: Unia
Für einmal gab’s nahöstlichen Fingerfood statt die übliche Kantinenkost zum Zmittag: Falafel, Hummus, Couscous, Babaganoush usw. Und das erst noch draussen im Park bei schönstem Wetter: Der 14. Juni 2023 dürfte den Mitarbeitenden der Geriatrischen Klinik St. Gallen in bester Erinnerung bleiben. Denn sie alle waren zur Streik-Tavolata geladen. Die Unia hatte im Park vor der Klinik einen langen Esstisch für die Mittagspause aufgestellt. Und gut sichtbar auch ein rosa Transparent mit den Sofortmassnahmen gegen den Pflegenotstand.
STREIK IM GRÜNEN. Entspannte Stimmung und ein Hauch von Italianità, gepaart mit schweizerischer Gemütlichkeit, prägten den temporären Streikplatz im Grünen: Von 11 bis 14 Uhr gingen die Pflegenden gruppenweise in die Pause und setzten sich an die reich gedeckte Tavolata. Die meisten Mittagsgäste sind Frauen, aber auch einige Männer sind da, darunter ein älterer Arzt mit bunter Fliege. «Was gibt’s denn da Gutes?» fragten erstaunte Pflegerinnen – und griffen am Buffet zu.
Fatime Zekjiri leitet bei der Unia Ostschweiz das Team für die Langzeitpflege. Sie sagt: «Wir wollten etwas gewerkschaftlich Nachhaltiges machen!» Schon Monate zuvor waren sie und ihre Kolleginnen mit den Klinik-Mitarbeitenden im Gespräch. In den Sprechstunden, die die Unia viermal pro Jahr in der Klinik abhalten kann, wurden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Sinn und Zweck der Streik-Tavolata informiert und auf den Anlass vorbereitet. Mit dieser Aktion konnte die Unia gewiss viel Goodwill schaffen – und zeigen, dass ein symbolischer Streik auch lustvoll sein kann. Das Fundament für eine weitere erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit in der St. Galler Geriatrie ist gelegt. (rh)
Er wurde im Vorfeld kleingeredet, kleingeschrieben, kleingesendet. Doch er wurde gross: Hunderttausende schweizweit auf den Strassen und unzählige Aktionen in den Betrieben.
Das Jahr 2024 ist erst wenige Monate alt, doch die Anzahl der Femizide ist erschütternd. In der Schweiz alleine wurden dieses Jahr bereits sechs Frauen ermordet. Der Appell aus den...
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