Das Rentenalter 60 erstritten sich die Bauarbeiter im Jahr 2002 mit Streiks und einer Blockade am Bareggtunnel. Mario Renna war damals gemeinsam mit über 2000 Bauarbeitern bei der Sperrung des Tunnels dabei.
LEGENDÄRE AKTION: Mario Renna erstreikte vor 20 Jahren zusammen mit weiteren Baubüezern aus der ganzen Schweiz das Rentenalter 60 auf dem Bau. (Foto: Matthias Luggen)
Bauarbeiter Mario Renna (83) sitzt zwischen Himbeersträuchern in seinem lauschigen Schrebergarten unterhalb der Gewerbeschule im Berner Lorrainequartier. Seit 20 Jahren ist er pensioniert und kommt in den Sommermonaten fast jeden Tag in den Garten. Renna war dabei, als sich die Baubüezer zusammen mit der Gewerkschaft GBI (später Unia) das Rentenalter 60 auf dem Bau erkämpften.
Jetzt, am 1. Juli, liegt die Einführung der frühzeitigen Pensionierung genau 20 Jahre zurück. Doch die Erinnerungen an diesen historischen Kampf sind noch längst nicht verblasst. Im Gegenteil!
«Es war eine lustige Stimmung! Zuerst wurden wir noch von der Berner Polizei begleitet.»
POLIZEIESKORTE ZUR BLOCKADE
Mario Renna erinnert sich gut an den entscheidenden Tag am Baregg im November 2002: «Wir trafen uns damals auf der Berner Schützenmatt, und vier Cars standen bereit. Es war eine lustige Stimmung, und wir wurden zuerst noch von der Berner Polizei begleitet.»
Aus der ganzen Schweiz reisten Bauarbeiter für eine Aktion am Baregg im Kanton Aargau an. Eigentlich sollte diese nur eine halbe Stunde dauern. Doch vor Ort angekommen, rannten viele der über 2000 Streikenden spontan in den Tunnel, zu den Kollegen auf der anderen Seite. Für Mario Renna war dieses unerwartete Zusammentreffen besonders schön: «Wir haben unsere Kollegen aus anderen Städten getroffen. Das war eine tolle Überraschung!»
MIT SCHWUNG: Rund 2000 streikende Bauarbeiter strömten am 4. November 2002 in den Bareggtunnel und blockierten ihn. (Foto: Keystone)
Am Ende dauerte die Aktion, an der auch der damalige GBI-Präsident Vasco Pedrina massgeblich mitbeteiligt war, deutlich länger als geplant. Der Autoverkehr um den Tunnel staute sich auf über 20 Kilometern. Es war der Höhepunkt einer langen und harten Auseinandersetzung, mit einer der grössten Streikbewegungen in der Schweiz nach dem Generalstreik von 1918.
STREIKERFOLG WIRKT NACH
Eine Woche nach dem legendären Streik am Baregg unterzeichneten der Schweizerische Baumeisterverband und die Gewerkschaften den Vertrag zum «flexiblen Altersrücktritt» im Bauhauptgewerbe (FAR). Jährlich werden inzwischen fast 2000 neue Renten gesprochen. Und über 8400 Frührentner profitieren aktuell von der FAR-Rente, die im Schnitt ungefähr 4500 Franken pro Monat beträgt. Bei der ordentlichen Pensionierung wird die FAR-Rente durch die Leistungen der AHV und der beruflichen Vorsorge abgelöst. Christian Wenger, Geschäftsführer der Stiftung FAR: «Der vorzeitige Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe ist wirklich eine Pionierleistung und ein schönes Beispiel dafür, dass eine Zusammenarbeit auch über politische Grenzen hinweg funktionieren kann.» Auch für Unia-Bauchef Nico Lutz hallt die Euphorie von damals nach: «Der Streik war ein eindrückliches Erlebnis für mich persönlich, und das Resultat prägt unsere Gewerkschaftsarbeit bis heute.»
Suva-Statistik: Bau bleibt gefährlich
Der Bau bleibt die härteste und gefährlichste Branche der Schweiz. Das zeigt die aktuelle Suva-Statistik. Zwar ist die Zahl der Unfälle auch dank den Anstrengungen der Suva, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften gesunken. Aber nach wie vor erleidet ein Bauarbeiter im Durchschnitt alle sechs Jahre ein Berufsunfall.
FRÜHRENTE HILFT. Vor der Einführung des Rentenalters 60 lag der Invaliditätsgrad bei der Pensionierung von Baubüezern bei 40 Prozent. Jeder fünfte starb vor der Erreichung des regulären Pensionsalters. Heute liegt die Quote jener, die das Rentenalter erleben, deutlich höher. (isc)
FAHNENMEER: Mit ihrer historischen Baregg-Aktion erkämpften sich die Büezer das Rentenalter 60 auf dem Bau. (Foto: Keystone)
SAISONNIER IM RUHESTAND
Im Juli 2003 gingen als Folge des Streiks die ersten Bauarbeiter in der Schweiz in Frühpension. Auch Mario Renna, der sich mit 63 Jahren pensionieren liess. Seither konnten über 30 000 Bauarbeiter frühzeitig in den Ruhestand treten.
Und die Frauen? Bauchef Lutz weiss die Zahl ziemlich genau: «Von den über 30 000 Frühpensionierten waren bis jetzt 7 oder 8 Frauen.» Auch in anderen Branchen gibt es Bestrebungen für eine Frühpensionierung, zum Beispiel bei den Gipserinnen, den Gerüstbauern oder bei den Schreinerinnen. Und auch eine Befragung der Gewerkschaft VPOD unter Pflegenden zeigt: Zwei Drittel dieser Berufsgruppe, in der mehrheitlich Frauen arbeiten, würden es begrüssen, wenn auch in der Pflege das Rentenalter 60 gelten würde. Allerdings glauben nur 7 Prozent, dass sie ihren Lebensstandard mit ihrer Rente halten könnten. Nico Lutz sagt, dass der hohe Organisationsgrad auf dem Bau – über 70 Prozent der Büezer sind Gewerkschaftsmitglied – massgeblich zur Stärke des Streiks und zur erfolgreichen Verhandlung mit den Baumeistern beigetragen hat.
ENTSCHLOSSEN: Jeder fünfte Bauarbeiter erreichte dazumal das Rentenalter nicht, die harte Arbeit machte ihre Körper kaputt. (Foto: Keystone)
Mario Renna ist heute 83 Jahre alt und lebt mit seiner Frau immer noch im Berner Lorrainequartier, 61 Jahre nachdem er als Saisonnier aus Sizilien in die Schweiz gekommen war. Über sein gewerkschaftliches Engagement sagt er: «Wenn du dich nicht wehrst, wirst du überfahren!» Und er empfiehlt jüngeren Menschen, die noch viele Jahre Arbeit vor sich haben: «Die Leute sollten Vertrauen haben, sich gegenseitig unterstützen und ehrlich sein.» Er sei auch 20 Jahre nach der Pensionierung noch Mitglied der Gewerkschaft, denn für ihn geht es hier um viel mehr als seinen persönlichen Vorteil.
Mehr zum Thema: Broschüre «Rentenalter 60 auf dem Bau: Wie es dazu kam», Unia, 2015. Erhältlich als Gratis-Download unter rebrand.ly/FAR-Geschichte oder als gedruckte Broschüre per Mail an bau@unia.ch. Preis: Fr. 10.–, für Unia-Mitglieder gratis.