Jean Ziegler
Bertolt Brecht schreibt:
«Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man sieht nur die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.»
ERSTE HILFE. April 2020 in Genf: In der Dämmerung eines regnerischen Frühlingsmorgens wurden die Menschen aus dem Schatten plötzlich sichtbar. Für Tausende sogenannt illegale Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, die Sans-papiers und bitterarme Einheimische, hatte die mit Covid einhergehende Wirtschaftskrise Elend gebracht.
Nichtregierungsorganisationen wie «Partage», «Colis du cœur» und «Caravane sans frontières» organisierten kurzfristig die Verteilung von Nahrungsmittelpaketen, sogenannte Cabas (Papiersäcke), mit Zucker, Fleischkonserven, Teigwaren, Hygieneartikeln. Über 2000 hungernde Menschen – darunter Kinder – standen in der Morgendämmerung vor dem städtischen Sportzentrum «Les Vernets».
In Genf waren 2022 schon über 14000 Menschen auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen.
Die Bilder gingen um die Welt: Hunger, Not und Verzweiflung in einer der reichsten Städte des Planeten!
Die Covid-Seuche ist verschwunden, das Elend ist geblieben. Mehr noch: es ist massiv schlimmer geworden. Genf ist der sechstgrösste Finanzplatz der Welt und der Kanton mit der grössten Ungleichheit: 2 Prozent der Bevölkerung besitzen 63 Prozent der Vermögenswerte im Kanton. 0,3 Prozent der Steuerzahlenden (darunter schwerreiche Multimilliardäre) berappen 72 Prozent des Steueraufkommens.
TENDENZ STEIGEND. 2022 stieg die Zahl der Bezügerinnen und Bezüger der Nahrungsmittelhilfe auf über 14 000. Im Vorjahr waren es 12 000. Tendenz steigend. 2022 wurden 3,5 Millionen Mahlzeiten ausgerichtet. Gegenüber 2,8 Millionen im Jahr 2020. Die Nachfrage für die Cabas steigt ebenfalls unaufhaltsam: im Februar 2023 wurden in einem Monat über 23 000 Papiersäcke mit Gütern des täglichen Bedarfs ausgereicht.
Die Nahrungsmittelverteilung findet inzwischen jede Woche an sechs verschiedenen Orten des Kantons statt. Sie ist vielfältig: In der Kirche Sainte-Clotilde verteilt die «Caravane sans frontières» jeden Sonntag viele Hundert Mahlzeiten. «Partage» und «Colis du cœur» sammeln in den Lebensmittelgeschäften am Ende jeden Tages nicht verkaufte Esswaren ein und verteilen sie. «Caritas» hat drei «Epiceries» eröffnet, wo Menschen für ganz wenig Geld einkaufen können (nach vorgängiger Prüfung ihrer wirtschaftlichen Situation).
Genf ist auch eine unglaublich lebhafte, erfindungsreiche Stadt.
WICHTIGER ENTSCHEID. Juni 2023: Das Genfer Volk stimmt der Verankerung des universellen Menschenrechtes auf Nahrung in der Kantonsverfassung zu. Mit diesem klugen Entscheid ermöglichen es die Genferinnen und Genfer dem energischen Fürsorgedirektor, Staatsrat Thierry Apothéloz (SP), den zunehmenden Hunger in der Bevölkerung mit öffentlichen Mitteln zu bekämpfen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.