Roland Erne war Chemielaborant und GBI-Jugendsekretär. Seit 2017 ist er Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen am University College Dublin.
Rumänien zeigt, wie die Länder in Europa die Gesamtarbeitsverträge (GAV) stärken können. Das jüngste rumänische GAV-Gesetz ist ein Wegweiser für ganz Europa. Das ist die Einschätzung von UNI-Europa, der europäischen Gewerkschaft für den privaten Dienstleistungssektor, der auch die Unia angehört.
FORTSCHRITT. Diese Verbesserungen bringt das Gesetz: erleichterten Zugang von Gewerkschaften zu nichtorganisierten Betrieben; für alle Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten obligatorische GAV-Verhandlungen; in einer Branche müssen Arbeitgeber künftig jede Gewerkschaft anerkennen, die mindestens fünf Prozent der Beschäftigten vertritt (Senkung Repräsentativitätsschwelle für Gewerkschaften auf Betriebs- und Branchenebene); vereinfachte Allgemeinverbindlichkeitserklärung von GAV; auch Selbständigen ist es erlaubt, sich zu organisieren; mehr Schutz von Gewerkschaftsmitgliedern vor Diskriminierung; Stärkung des Streikrechts, einschliesslich Legalisierung von Solidaritätsstreiks und politischen Streiks.
UNGLEICHHEIT. Dies ist ein Wendepunkt. Denn nach der Finanzkrise von 2009 verschrieb die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) ganz andere Rezepte: Um EU- und IWF-Gelder zur Stützung seiner Staatsfinanzen zu erhalten, musste Rumänien 2011 im Gegenzug ein neoliberales Arbeitsgesetz verabschieden. Daraufhin fiel die Zahl der Beschäftigten, die einen GAV haben, von 100 Prozent (2009) auf
15 Prozent (2017). Deshalb nahm die soziale Ungleichheit stark zu. Rumänien hat heute eine der höchsten Armutsraten unter den Erwerbstätigen in ganz Europa.
Das neue Gesetz ist ein Wendepunkt.
KARAWANE. Als der soziale Sprengstoff dieser neoliberalen Rezepte immer offensichtlicher wurde, beschloss die EU, Gegensteuer zu geben, und verabschiedete die EU-Mindestlohnrichtlinie, laut der 80 Prozent aller Beschäftigten einen GAV haben sollten. Nach der Covid-Pandemie machte die EU zudem die Zahlung ihrer Aufbau- und Resilienz-Gelder an Rumänien von einer Revision des Arbeitsrechts abhängig, um den «sozialen Dialog» zu stärken. Dieser Kurswechsel wäre ohne den Druck der Gewerkschaften nicht möglich gewesen, einschliesslich einer fünftägigen Protestkarawane der sozialen Rechte von Bukarest nach Brüssel im Juli 2021. Zudem sahen auch wichtige Kapitalfraktionen (einschliesslich der Banken) ein, das eine Rückkehr zu GAV sinnvoll ist, um faire Wettbewerbsbedingungen in einer Branche zu schaffen.
Dies ebnete der sozialdemokratisch-liberalen Regierung Rumäniens den Weg für die Verabschiedung des neuen Arbeitsgesetzes. Dennoch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: es ist immer einfacher, ein GAV-System zu zerschlagen als es danach wieder aufzubauen.