Jean Ziegler
«Dem Innern des Landes seine Schätze zu entreissen, das ist ihr einziges Verlangen, mit keinem anderen moralischen Anspruch dahinter als dem von Räubern beim Aufbruch eines Geldschrankes», der Satz stammt aus dem weltberühmten Buch des polnisch-britischen Schriftstellers Josef Conrad «Herz der Finsternis», erschienen vor 120 Jahren. In Bezug auf die transkontinentalen Konzerne ist Conrads Satz von erschreckender Aktualität.
GIGANTISCH. Der US-Sprachwissenschaftler Noam Chomsky nennt diese Konzerne die «gigantic immortal persons» (die gigantischen unsterblichen Personen). Der weltgrösste Rohstoffspekulant ist die Zuger Firma Glencore. Anlässlich eines kürzlichen Treffens für die Investoren kündigte Glencore einen Bruttoprofit von 28,7 Milliarden US-Dollar für 2023 an. Schweizerische und internationale Gewerkschaften klagen Glencore wegen Korruption und häufiger Verletzungen von Menschenrechten und internationalen Normen des Umweltschutzes an. Wo ist Hoffnung? In Brüssel.
Konzernverantwortung: Die Gesetzesvorlage des Bundesrats ist schwach.
STARK. Oktober 2023: Im grossen Pressesaal des Berlaymont-Gebäudes, des EU-Hauptquartiers, kündigt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den kurz bevorstehenden Erlass einer neuen EU-Direktive an: Ab 2024 sollen transkontinentale Konzerne für die von ihnen oder/und ihren Zulieferern verursachten Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen (darunter auch die Missachtung der Gewerkschaftsfreiheit) von allen Geschädigten zivilrechtlich auf Schadensersatz verklagt werden können. Gerichtsstand ist das Ursprungsland des Konzerns. Die Konzerne müssen die Praktiken aller Unternehmen in allen Ländern ihrer Zulieferer («sous-traitans») prüfen. Mehrere Konzerne haben Hunderte von Zulieferern von Waren und Maschinen. Sie alle müssen jetzt mit der neuen EU-Richtlinie Überwachungsprogramme für ihre Praktiken erstellen.
SCHWACH. 2020 hat die Schweizer Bevölkerung die Volksinitiative für Konzernverantwortung zwar angenommen, die Initiative scheiterte aber am Ständemehr. Stattdessen legte der Bundesrat ein Gesetz vor. Dieses sieht keine effektiven zivilrechtlichen Sanktionen vor. Bestraft werden nur absichtlich falsche Angaben im obligatorischen Bericht zur nachhaltigen Entwicklung der Praktiken einer multinationalen Gesellschaft.
Die Vereinigung GEM (Groupement des Entreprises Multinationales) organisiert die grossen Schweizer Gesellschaften, die auf europäischem Boden tätig sind. GEM hat 103 Mitglieder. Diese Gesellschaften haben total 38 000 Angestellte. GEM bremst so stark wie irgend möglich den Ausbau der Konzernverantwortlichkeit. Und GEM bevormundete regelrecht Karin Keller-Sutter, damals Justizministerin. Entsprechend schwach sind die bundesrätlichen Vorlagen.
Das eidgenössische Parlament, die Gewerkschaften und die Öffentlichkeit müssen erwachen und an die jetzt zuständige Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider appellieren, die schweizerische Gesetzgebung der neuen EU-Direktive anzupassen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.