Marius Käch war Maurer in Zürich und ist jetzt Student in Hanoi.
Den letzten Tag vor dem Semesterbeginn beginne ich gemütlich. Bei Sonnenschein und angenehmen 30 Grad geniesse ich den Morgenkaffee auf dem Balkon. Von meiner kleinen Wohnung aus habe ich eine phantastische Aussicht auf Hanoi. Unter mir liegen ein kleiner See mit Pagode, eine Schreinerei, eine familiäre Baufirma und viele kleine Häuser mit Familienbetrieben im Erdgeschoss. Trotz dem geschäftigen Treiben ist hier im Quartier alles angenehm ruhig. Ganz anders drüben in der Skyline, wo die modernen Wolkenkratzer stehen.
Beim Hochhaus ist ein Tumult im Gang.
SIRENEN. Dort ist beim Hochhaus «Artemis» ein Tumult im Gang. Aufgebrachte Bewohnerinnen und Bewohner, darunter viele Kriegsveteranen, blockieren die Zufahrt zur Tiefgarage. Auf ihren roten Bannern ist zu lesen: «Der Investor ignoriert den Regierungsbeschluss, die Sicherheit der Anwohner zu garantieren.» Was ist da bloss los? Höchste Zeit für einen Blick in die «Báo Lao Đông», die lokale Informationsquelle meines Vertrauens. «Báo Lao Đông» heisst so viel wie «Arbeitszeitung», sie ist also quasi das work Vietnams. Und sie berichtet Folgendes:
Die Investmentgesellschaft, der das «Artemis» gehört, hat die Parkgebühren für die über 1600 Mietenden über Nacht verdreifacht. Zudem hat sie kurzerhand alle Fahrzeuge von zahlungssäumigen Mietenden blockieren lassen. Verheerend für die Leute, die besonders auf ihre Roller, Scooter und Töffli angewiesen sind. Und frech! Denn Handlungsbedarf bestünde im «Artemis» an einem ganz anderen Ort: Die Brandschutzanlage ist futsch – und das seit Jahren. Eine Bewohnerin sagt: «Immer wieder gehen die Sirenen los, aber man weiss nie, ob es wirklich brennt oder wieder nur ein Fehlalarm ist.» Allein in diesem Jahr mussten die Eigentümer deswegen drei saftige Bussen an die Feuerpolizei blechen.
VOLKSKOMITEES. Grund genug für die «Artemis»-Leute, sich mit einem selbstorganisierten Komitee zur Wehr zu setzen! Hunderte beteiligen sich. Auch wurde sofort ein Fonds eingerichtet. Damit sollen die Anwältinnen und Anwälte bezahlt werden, die jetzt die Investmentgesellschaft verklagen. Und das örtliche Volkskomitee stellt Personal ab, um mit den Bewohnenden Treffen zu organisieren. So soll der Privatinvestor zum Dialog gebracht werden. Bisher verweigert er sich Verhandlungen komplett. Aber schon einmal musste er klein beigeben. 2018 protestierten die «Artemis»-Mietenden wegen unverantwortlich hoher Gebühren für Wasser und Strom. Und damals gelang es, mit Hilfe des Volkskomitees so viel Druck auf den Eigentümer auszuüben, dass dieser die Forderungen erfüllen musste. Auf dass sich dies wiederhole!