Der Genfer Anwalt Olivier Peter hat schon viele Menschenhändler hinter Gitter gebracht. Polizei und Justiz waren nicht immer eine Hilfe. Er fordert vom Staat, endlich durchzugreifen.
GEPRÄGT: Geboren und aufgewachsen ist Olivier Peter (37) im Tessin, wo er auch für die Unia tätig war. Zusätzlich hat der grosse SBB-Streik in Bellinzona (2008) seine berufliche Laufbahn geprägt. (Foto: Eric Roset)
work: Laut der Plateforme Traite, der Schweizer Plattform gegen Menschenhandel, nehmen die Opferzahlen seit 2019 tendenziell zu. Allein im Jahr 2022 identifizierte die Plattform 177 neue Menschenhandelsopfer. Ist dieses Verbrechen tatsächlich auf dem Vormarsch?
Olivier Peter: Das ist schwer zu sagen, denn aufgrund der verstärkten Sensibilisierung und neu geschaffener Angebote ist es für Opfer wenigstens ein bisschen einfacher geworden, sich zu melden. Das könnte die Statistik verzerren. Das Grundproblem liegt jedoch in der Schweizer Justiz: Sie hat den Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung lange Zeit toleriert.
Wie bitte?
Jahrelang betrachtete unser Rechtssystem die Ausbeutung von Arbeitnehmenden als eine rein privatrechtliche Angelegenheit zwischen gleichberechtigten Parteien in einem Vertragsverhältnis. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um einen Straftatbestand, ja sogar um ein Offizialdelikt! Die Staatsanwaltschaften und die Polizeien haben ihre Arbeit lange nicht getan und zugelassen, dass sich dieses schwere Verbrechen ausbreitete und Täterinnen und Täter ungestraft davonkamen.
Wo konkret gibt es ein Polizei-Problem?
Zunächst muss man wissen: Sogar den Opfern selbst ist oft nicht bewusst, dass bei ihnen der Tatbestand des Menschenhandels erfüllt ist. Sie wissen daher auch nicht, dass ihnen besondere Rechte und Unterstützungsleistungen zustehen. Der Gang zur Polizei kommt für sie oft gar nicht in Frage, zumal die meisten Betroffenen keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Ihre Angst ist leider begründet. In der Schweiz haben weder Menschenhandelsopfer noch Zeugen eine Garantie auf ein definitives Bleiberecht. Selbst dann nicht, wenn sie vollumfänglich mit der Polizei kooperieren.
Was sollten Betroffene also tun?
Statt alleine zur Polizei zu gehen, sollten sie sich Unterstützung von einer Gewerkschaft oder einer spezialisierten Fachstelle holen. Denn das System hat zwar positive Elemente, ist aber in der Gesamtheit eher darauf ausgerichtet, die Täter zu schützen. So gibt es leider noch immer Staatsanwälte, die den Artikel 182 des Strafgesetzbuches nicht einmal kennen. Ich habe Ermittlungen erlebt, die über sieben Jahre gedauert haben, bevor der Fall vor Gericht kam. Oder Staatsanwaltschaften, die alle anderthalb Jahre ihr Personal austauschen. Das zieht die Verfahren massiv in die Länge. Hinzu kommt, dass die Opfer oft keine angemessene Unterkunft erhalten. In Genf gibt es zumindest noch Frauenhäuser, aber für Männer gibt es keine spezielle Struktur.
«Das System ist eher darauf ausgerichtet, die Täter zu schützen.»
Trotzdem: Man kann sich wehren. Sie selbst haben ja schon etliche Fälle gewonnen!
Richtig, und bisher allesamt erstinstanzlich! Ein Urteil aus der Bauwirtschaft ist mir dabei besonders wichtig. Auf dem Bau haben wir oft die Situation, dass der Menschenhändler aus demselben Land oder derselben Region kommt wie seine Opfer. Doch es ist für ihn nicht immer einfach, hier sauber eine Firma zu eröffnen und bei den paritätischen Kontrollkommissionen alle nötigen Papiere einzureichen. Deshalb greifen ausländische Täter gerne auf einheimische Treuhänder als Strohmänner zurück. So auch in diesem Fall. Die beiden schuldeten den ausgebeuteten Arbeitern 400 000 Franken. Doch der Staatsanwalt konzentrierte sich jahrelang nur auf den ausländischen Chef. Ich musste wirklich darauf bestehen, dass auch sein Strohmann zur Verantwortung gezogen wird. Schliesslich erkannte das Gericht die persönliche Haftung des Strohmanns für die nicht bezahlten Löhne an, und er erhielt eine Gefängnisstrafe. Das ist ein grosser Erfolg, denn bisher haben die Staatsanwälte die Schweizer Treuhänder immer in Ruhe gelassen, und nach diesem Urteil scheint sich die Praxis zu ändern.
Und wen schicken Sie als nächstes ins Gefängnis?
Unsere Kanzlei vertritt zurzeit gleich mehrere Opfer von Menschenhandel. Ein Fall betrifft zwei südamerikanische Hausangestellte, die in einer Villa im Genfer Stadtzentrum ausgebeutet und vergewaltigt wurden. Ein weiterer Fall betrifft eine philippinische Arbeiterin, die von pakistanischen Diplomaten ausgebeutet wurde. Dieser Fall ist besonders problematisch, weil die Täter behaupten, unter diplomatische Immunität zu fallen. Wenn nötig, werden wir den Fall jedoch bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen!
Vor einem Jahr verabschiedete der Bund den dritten Nationalen Aktionsplan (NAP) gegen Menschenhandel. Auch die Unia hat daran mitgewirkt. Grund für Optimismus?
Es gibt durchaus eine hoffnungsvolle Entwicklung. Angefangen hat diese im Tessin, wo schon 2005 eine spezialisierte Polizeieinheit gegen Menschenhandel geschaffen wurde. Geburtshelferin dieser Einheit war übrigens die lokale Unia, die zusammen mit der Generalstaatsanwaltschaft mehreren Fällen auf der Spur war und eine solche Einheit forderte. Denn es ist klar: Wenn sich eine Spezialeinheit und eine spezialisierte Staatsanwältin mit dem Thema befassen, ändert das die Ausgangslage komplett.
Sie sind im Kanton Genf tätig, der ebenfalls als Vorreiter in Sachen Menschenhandelsbekämpfung gilt. Was steckt dahinter?
Bei uns haben die Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft sehr wichtige Arbeit geleistet. Sie haben Fälle angeprangert, Opfer unterstützt und die Behörden zu einer Reaktion gezwungen. Ohne diese Arbeit wäre Genf nicht weiter als andere Kantone. Aber es stimmt: Während wir nun eine polizeiliche Sonderbrigade gegen Menschenhandel haben, drücken sich andere Kantone noch immer um die Verantwortung. Es tut sich aber was. So hat heute etwa auch die Kapo Zürich einen spezialisierten Fachdienst. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, Menschenhandel lasse sich nur durch Repression bekämpfen. Vielmehr muss anerkannt werden, dass die Wurzeln des Menschenhandels in unwürdigen Arbeitsbedingungen und unzureichenden Arbeitsplatzkontrollen liegen. Der Staat muss sich auch um die Opfer kümmern, sie schützen, ihnen Wohnungen organisieren und ihren Aufenthalt legalisieren. Und schliesslich sind auch Fortschritte in der Frage der Entschädigung erforderlich. Ich sehe oft einen Staat, der die schwere Ausbeutung von Arbeitnehmern durch Menschenhändler de facto zulässt, dann aber keinerlei Verantwortung übernimmt und den Schaden nicht wiedergutmacht. Das ist für mich der eigentliche Skandal!