Er will das Bürgerrecht in der Schweiz radikal umkrempeln. Jurist Tarek Naguib (47) kämpft mit der Aktion Vierviertel gegen die Diskriminierung im politischen System.
ÜBERZEUGT: Tarek Naguib glaubt, dass der Weg zum Schweizer Pass zu steinig ist. (Foto: Yoshiko Kusano)
work: Herr Naguib, in der Schweiz kann ein Viertel der Bevölkerung politisch nicht mitbestimmen, wird also diskriminiert. Was bedeutet das genau?
Tarek Naguib: Diskriminierung ist eine besonders ungerechte Form von Benachteiligung und trifft Menschen aus Einwandererfamilien hart. Sie erfahren Rassismus und Diskriminierung aufgrund ihrer Religion, ihres Geschlechts oder aufgrund von Armut, wegen ihrer sexuellen Orientierung oder einer Behinderung.
Wo findet sie statt?
Wen wundert es: überall! «Ausländer», mit oder ohne Schweizer Pass, werden als «fremd» wahrgenommen. Sie sollen hierherkommen, um vor allem fleissig zu sein. Ansonsten aber sollen sie sich möglichst angepasst verhalten. Unter dem Motto: «Komm in die Schweiz, aber nicht als Mensch, sondern als Arbeiter.» Das ist eine schreckliche Ausgangslage für viele Menschen hier in unserem Land und zeigt: die Schweiz hat ein tief verankertes Rassismusproblem.
Das klingt dramatisch.
Leider, ja. Viele Menschen in der Schweiz haben rassistische Vorstellungen gegenüber bestimmten Menschengruppen. Das hat etwas mit unserer Geschichte zu tun. Rassismus ist alltäglich. Etwa bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Und es fängt schon früh an: Kinder werden auf die Herkunft der Eltern reduziert, und durch das hiesige Schulsystem wird ihnen automatisch weniger zugetraut.
Bei den vergangenen Wahlen hetzte die SVP gegen «Ausländerinnen». Warum ist das seit Jahren ein Erfolgsrezept?
Rechte Parteien spielen im Wahlkampf mit den Ängsten der Bevölkerung. Zwar sind wir in der Schweiz sehr verwöhnt, denn wir leben in Sicherheit, haben eine tiefe Arbeitslosigkeit und keine Kriege. Doch durch die sozialen Medien sind Klimakrise, Kriege und weitere globale Probleme spürbarer. Und hier kommt die SVP ins Spiel: Sie behauptet, dass «Ausländer» ein Problem für die Schweiz seien, dass sie uns was wegnehmen würden. So werden Wählerinnen und Wähler verunsichert und die Ablehnung gegenüber der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte geschürt.
Im Parlament sitzen immer mehr Menschen mit Migrationsgeschichte, wie SP-Nationalrätin Farah Rumy mit Wurzeln aus Sri Lanka. Wie wichtig sind diese Volksvertreterinnen im Parlament?
Das macht etwas mit den Menschen und ist ein tolles Zeichen! Gerade dort, wo Menschen mit Migrationsgeschichte stark untervertreten sind. Das ist für die tamilische Community, aber auch darüber hinaus ein unglaublich emotionaler Moment. Es kann Menschen bestärken und motivieren, das Land noch stärker mitzubestimmen, als sie es sowieso schon tun.
Wie meinen Sie das?
Viele denken jetzt: «Wow, da kommen Menschen ins Parlament, die unsere Erfahrung teilen, ‹fremde› im eigenen Land zu sein.» Und jetzt sitzen sie an den Schalthebeln der Macht. Und das ist sehr wichtig! Es ist nicht nur wichtig, dass Anliegen solcher Gruppen im Parlament Platz finden, sondern es ist noch wichtiger, eine gerechte Repräsentation herzustellen. Ein realistisches Abbild der Bevölkerung in der Politik. Und ein Signal für migrantische Gemeinschaften: «Die Schweiz gehört uns allen!»
Mit dem Verein Aktion Vierviertel haben Sie die Demokratieinitiative lanciert. Das Ziel: den Einbürgerungsprozess erheblich zu erleichtern. Warum ist das Bürgerrecht so wichtig?
Die Trennung zwischen Schweizern und Nichtschweizern in Hinblick auf das Bürgerrecht ist sehr ungerecht. Das führt zu ganz vielen Diskriminierungen und zu einem Demokratiedefizit. Mittlerweile kommen mehr als 50 Prozent der unter 15jährigen aus einem Haushalt mit Migrationsgeschichte. Und seien wir ehrlich: Wenn ein Land schon längst von Migration geprägt ist, aber das nicht akzeptiert, ist das komplett lebensfremd! Deshalb muss das Bürgerrecht radikal umgekrempelt werden. Wir brauchen eine Demokratie für alle Menschen, die hier zu Hause sind.
Ist der Weg zum Schweizer Pass wirklich so steinig?
Im Einbürgerungsprozess herrscht zurzeit viel Willkür. Hat man die «falsche» Herkunft oder bezieht man Sozialgelder, wird man sofort ausgeschlossen. Dabei gestalten alle dieses Land mit. Die Demokratieinitiative will die Voraussetzungen erheblich erleichtern. Und die unterschiedlichen Anforderungen von Kantonen und Gemeinden einheitlich machen.
Kommt es jetzt zur Revolution des Bürgerrechts?
Nennen wir es eine Evolution. Die Fremdbestimmung ist ein Grundproblem unserer Demokratie. Die Schweiz hat eines der restriktivsten Einbürgerungsrechte Europas. Und die Politik tut zu wenig dagegen. Das Problem: nur ein gewisser Teil bestimmt, wer zur Demokratie gehört. Mit der Demokratieinitiative wollen wir die Vielfalt in unserem Land sicht- und spürbar machen. Denn Mitbestimmung ist ein Grundrecht.
Tarek Naguib: Ein Mann mit einer Mission
Tarek Naguib (47) fokussierte sich nach seinem Jurastudium auf das Fachgebiet Antidiskriminierung. Er hat mehrere Organisationen mitgegründet, darunter die Allianz gegen Racial Profiling. Zurzeit ist er Koordinator bei der Plattform Menschenrechte Schweiz, Co-Geschäftsleiter des Instituts Neue Schweiz und sitzt im Vorstand der Aktion Vierviertel.