An der Tagung zu 25 Jahren gewerkschaftlicher Mindestlohnkampagne sprach Verkäuferin Anny Myriam Favre eindrücklich über ihr Vierteljahrhundert im Verkauf. work hat die Rede aus dem Französischen übersetzt und dokumentiert sie leicht gekürzt.
REBELLIN: Verkäuferin Anny Myriam Favre versteckte den Unia-Unterschriftenbogen auf der Arbeit in einer Schublade. (Foto: Lucas Dubuis)
«Es war im Dezember vor mehr als 25 Jahren. Eine Kollegin kam mich an die Kasse ablösen: ‹Du musst sofort aufs Büro.› Mit schiesst durch den Kopf: ‹Was habe ich falsch gemacht? Hat sich eine Kundin oder ein Kunde über mich beschwert?›
Der Abteilungsleiter lässt mich eintreten. ‹Frau Favre›, sagt er, ‹wir sind mit Ihrer Arbeit zufrieden. Und haben darum beschlossen, Ihnen eine Lohnerhöhung zu gewähren.› Schweigen. Ich reagiere nicht. Ich warte, was noch kommt: ‹Fünf Rappen pro Stunde.› Ich schaue ihn an und frage mich, ob das ein Witz ist. Aber nein, der Abteilungsleiter scherzt nicht und fährt weiter: ‹Sie wissen, dass wir nur ein kleines Kässeli für Lohnerhöhungen haben: Wir haben nicht viel Geld. Also bitte ich Sie, Ihren Kolleginnen nichts davon zu erzählen, denn, wissen Sie, die Kolleginnen könnten neidisch werden.›
Ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich meinen Kolleginnen davon erzählt habe. Wahrscheinlich nicht. Es war verboten, darüber zu sprechen. Ich war eine ‹3-D›-Mitarbeiterin, wie wir auf französisch sagen: dévouée, docile, discrète. Also pflichtbewusst, gefügig und diskret.
Damals war ich noch nicht gewerkschaftlich organisiert. Es waren die Demütigungen, die zur Rebellion führten.
DIE ANGST. Es war uns verboten, miteinander über den Lohn zu reden. Wir durften auch nicht mit Journalistinnen und Journalisten reden: Auch das war verboten! Ich denke, einige Chefs wussten dieses Klima der Angst zu nutzen: Der Angst, den Job zu verlieren. Der Angst, nicht genug Arbeitsstunden zu haben. Der Angst vor den Konsequenzen, wenn man etwas sagt oder in die Gewerkschaft eintritt.
«Ich schaue ihn an und frage mich, ob das ein Witz ist.»
Heute denke ich, dass die Angst auf beiden Seiten war. Denn auch die Chefs hatten Angst. Sie hatten Angst, dass wir untereinander über unsere Löhne reden würden. Sie hatten Angst, dass wir mit den Medien reden würden. Sie hatten Angst, dass wir uns an die Gewerkschaft wenden würden. Dabei brauchten sie keine Angst zu haben. Nur sehr wenige Kolleginnen und Kollegen wussten wirklich, was eine Gewerkschaft ist. Sie hielten sie höchstens für eine Art Versicherung für den Fall von Problemen. Die meisten Kolleginnen wussten nicht, wie Lohnverhandlungen ablaufen. Sie wussten nicht wirklich, was gemeint war, wenn man von Sozialpartnern oder Lohnverhandlungen sprach. Selbst Gewerkschaftsmitglieder hatten Angst: Ich erinnere mich an eine Kollegin aus einem afrikanischen Land, die mich diskret beiseite nahm und sich umschaute, ob uns niemand sah oder hörte, wenn sie mit mir über die Gewerkschaft reden wollte.
MEIN WERDEGANG IM VERKAUF. Ich habe 27 Jahre bei Coop gearbeitet. 13 Jahre davon als Aushilfe im Stundenlohn. Ich arbeitete mehr als 30 Stunden pro Woche und hätte Anspruch auf einen festen Vertrag gehabt. Jedesmal, wenn ich dies beantragte, wurde dies verweigert. 2008 kaufte Coop Carrefour. In ‹meine› Coop-Filiale wurden Carrefour-Angestellte versetzt. Die Folge: Coop-Aushilfen ‹durften› zu Hause bleiben! Nach der x-ten Ablehnung und Erniedrigung zog ich – mit Unterstützung der Unia – in den Krieg, um diesen festen Vertrag zu bekommen. Es war wirklich ein Krieg! Nach monatelangem Gezänk bekam ich den Vertrag mit einem halbwegs angemessenen Gehalt. Einige Monate später erhielten die Kolleginnen und Kollegen, die mehr als 50 Prozent arbeiteten, ebenfalls einen festen Vertrag, aber mit dem Mindestlohn: Die Dienstjahre, die Fähigkeiten und die Erfahrungen wurden nicht berücksichtigt.
Als ich den festen Vertrag bekam, wurde ich von der Kasse in die Textilabteilung versetzt. Dort musste ich ganz allein arbeiten. Das habe ich als Strafe empfunden. Ich hatte keinen Kontakt mehr mit den Kassierinnen, also keinen Einfluss, keine Möglichkeit, neue Kolleginnen und Kollegen über ihre Rechte zu informieren.
Es dauerte auch eine Weile, bis ich in der Belegschaft herausfand, wer der Gewerkschaft angehörte. Man sprach nicht darüber. Ich war bekannt als ‹diejenige, die zusammen mit der Unia gekämpft hat›. Darum kam ab und zu jemand mit einer Frage zu mir. Es war schwierig bis unmöglich, gemeinsame Aktionen zu organisieren. In den Pausen waren wir nie zusammen. Die Arbeitszeiten liessen es kaum zu, Treffen zu organisieren. Wir haben es versucht – es kam niemand. Das Unia-Material wurde trotzdem manchmal im Pausenraum ausgelegt. Am nächsten Tag war es verschwunden: Die Reinigerin hatte alles in den Müll geworfen. Ich bot ihr Schokolade an, damit sie die Unia-Flyer auf den Tischen liegen liess.
Ich erinnere mich an eine Unterschriftensammlung, die gut funktioniert hatte. Ich weiss nicht mehr, ob es um die Löhne oder eine andere Forderung ging. In ‹meiner› Abteilung hatte ich einen Tisch, auf dem wir die Kleider falten konnten. Und der Tisch hatte eine Schublade. Ich habe die Unterschriftenbogen in die Schublade gelegt. So konnten die Kolleginnen unauffällig vorbeikommen und unterschreiben.
HEUTE. Ich bin bald 66 Jahre alt. Ich bin seit eineinhalb Jahren pensioniert. Ich bekomme monatlich 1409 Franken AHV- und 546 Franken Pensionskassenrente ausbezahlt. Das ergibt ein monatliches Nettoeinkommen von 1955 Franken. Man muss dazu sagen, dass ich nie Vollzeit bei Coop gearbeitet habe und einen etwas atypischen Lebenslauf hatte. Ich danke allen, die sich für anständige Löhne eingesetzt haben – und sich immer noch einsetzen. Löhne, von denen man leben kann und die es auch ermöglichen, dass die AHV-Renten nicht zu niedrig sind.»