Roland Erne war Chemielaborant und GBI-Jugendsekretär. Seit 2017 ist er Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen am University College Dublin.
Bei ihrem Amtsantritt als Präsidentin der EU-Kommission versprach Ursula von der Leyen eine sozialere EU. Tatsächlich brachte sie einige soziale EU-Gesetze auf den Weg: etwa die Mindestlohnrichtlinie oder die Richtlinie zu Lohntransparenz und Lohngleichheit (work berichtete). Auch für die Rechte von Kurierinnen und Chauffeuren der digitalen Plattformen wie Uber oder Deliveroo schlug sie eine neue Richtlinie vor.
CHECKLISTE. Mitte Dezember 2023 einigten sich die Verhandlungsdelegationen des EU-Parlaments und der EU-Mitgliedstaaten auf eine solche EU-Richtlinie. Sie regelt, wann Plattform-Büezer als Arbeitnehmende eingestuft werden müssen. Mindestens 5 Millionen der insgesamt 30 Millionen Plattform-Büezerinnen in Europa werden fälschlicherweise als Selbständige eingestuft, damit die Firmen keine Mindestlöhne bezahlen und ihnen andere soziale Rechte vorenthalten können, schreibt die EU-Kommission.
Eine Checkliste von fünf Punkten soll Scheinselbständigkeit leichter entlarven: 1. Legt die Firma das Lohnniveau fest? 2. Überwacht sie die Leistungen der Büezer aus der Ferne? 3. Ist es den Arbeitnehmenden nicht erlaubt, ihre Arbeitszeiten selbst zu wählen oder Aufträge abzulehnen? 4. Schreibt die Firma das Tragen von Uniformen vor? 5. Verbietet die Firma ihren Fahrerinnen und Fahrern, für andere Unternehmen zu arbeiten? Wenn mindestens zwei der fünf Punkte zutreffen, ist die Firma Arbeitgeberin und muss ihren Arbeitnehmenden die gleichen Rechte gewähren, die allgemein für Beschäftigte gelten (Mindestlohn, Arbeitszeiten, Krankengeld, Sicherheitsstandards usw.)
REVOLUTIONÄR. Die sozialdemokratische italienische Europaabgeordnete Elisabetta Gualmini freute sich: «Dies ist ein revolutionäres Abkommen.» Sogar die rechte französische Zeitung «Le Figaro» ging davon aus, dass der Kompromisstext demnächst von den EU-Regierungen ratifiziert wird. Doch es kam anders.
Einer rechten Allianz zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni und dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán gelang es, die Ratifizierung im EU-Ministerrat vorerst zu verhindern. Die deutsche Regierung enthielt sich, da die Richtlinie der FDP zu weit ging. Jetzt hat die neue belgische EU-Ratspräsidentschaft den Auftrag, mit den skeptischen Regierungen und dem progressiven EU-Parlament einen neuen Kompromisstext auszuhandeln, der den Plattformfirmen stärker entgegenkommt.
GUTE NACHRICHTEN. Dennoch gibt es auch gute Nachrichten aus Brüssel. Zwar haben die Plattformfirmen im EU-Ministerrat einen Teilsieg errungen. Zugleich verurteilte aber ein belgisches Gericht Deliveroo dazu, seine Kurierinnen und Kuriere künftig als Arbeitnehmende einzustufen. Das ist wichtig. In je mehr Ländern Plattform-Büezerinnen und -Büezer ihre Rechte durchsetzen können, desto mehr Länder werden auch schärfere Regeln auf EU-Ebene befürworten. Nicht aus sozialen Gründen, sondern aus wirtschaftlichen. Um europaweit gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.