Jean Ziegler
Spät am Abend nach einer langen Sitzung des Uno-Menschenrechtsrates esse ich häufig mit Beamten des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte oder befreundeten Diplomaten in einem Landgasthof des Dorfes Chambésy, in der Nähe des Genfer Völkerbundspalasts. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind verzweifelt. Sie fragen: «Werden wir genauso enden wie der Völkerbund? Hat die Zerstörung der Uno schon begonnen? Ist ihre Zerschlagung unvermeidlich?»
GREUEL. Die Gründung des Völkerbundes war geprägt vom fürchterlichen Blutbad des Ersten Weltkrieges, die der Uno von der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Das Wissen um die Absurdität des Krieges bestimmte die Völkerbundssatzung von 1919 genauso wie das Trauma der Nazi-Greuel die Uno-Charta von 1945.
Für den Zusammenbruch des Völkerbundes gibt es zahlreiche Erklärungen. Die wichtigste: Anders als die Uno-Charta kannte die Völkerbundssatzung keine Sanktionen und Massnahmen zur wirksamen Durchsetzung ihrer Prinzipien.
HERZSTÜCK. Kapitel sieben ist das Herzstück der Uno-Charta: Die Uno-Generalversammlung kann eine internationale Armee aufstellen gegen einen Staat, der einen Mitgliedstaat angreift. Zum Beispiel: der Krieg, den die Uno-Armee zwischen 1950 und 1953 gegen die nordkoreanischen und chinesischen Aggressoren Südkoreas siegreich führte. Zusätzlich führt Kapitel sieben eine ganze Reihe von anderen Zwangsmassnahmen auf wie das Wirtschafts- und das Finanzembargo.
Am 7. Oktober 2023 überfielen Terroristen der jihadistischen Hamas Siedlungen im Süden Israels. Sie töteten über 1200 Menschen und entführten über 200 Geiseln. Israel reagierte mit einem unerbittlichen Rachefeldzug. Die israelische Armee hat in etwas mehr als drei Monaten bereits 26 000 Palästinenser getötet und über 80 000 schwerstens verletzt. 70 Prozent davon sind Kinder und Frauen, die mit dem Hamas-Terror nichts zu tun haben.
WUNDER. Die Uno verlangt einen humanitären Waffenstillstand. Und das Ende der Totalblockade an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Trinkwasser. Umsonst! Israel bombardiert weiterhin Nacht und Tag Wohngebiete, Schulen, Spitäler und Moscheen in Gaza. Wie lange noch? Gibt es irgendeine Hoffnung für das Ende dieses schrecklichen Massakers?
«We the People of the United Nations» (Wir, die Menschen der Vereinten Nationen) heisst der erste Satz der Charta. Nicht die Staaten, sondern jeder einzelne Mensch begründet die Legitimität der Uno. Artikel 1 der Universellen Deklaration der Menschenrechte lautet:
«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»
Wenn von Menschen die Rede ist, sind Wunder möglich. Der weltweite Aufstand des Gewissens allein könnte die Uno vor dem endgültigen Zerfall bewahren.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.