Zum ersten Mal stellt eine wissenschaftliche Studie die Pflegenden in den Mittelpunkt. Es zeigt sich: Diese wissen sehr genau, woran das System der Langzeitpflege krankt.
ZUHÖREN: Oft fehlt es Pflegenden an Zeit, um wirklich auf ihre Patientinnen und Patienten eingehen zu können. (Foto: Keystone)
Als work Roland Schiesser am Telefon erreicht, hat er gerade einen Morgen lang Flyer verteilt für die AHV-13-Initiative. Nein, ins Altersheim ziehen wird der 69jährige pensionierte Unia-Gewerkschaftssekretär wohl nicht so bald. Und trotzdem kommt er immer wieder mit dem Thema in Kontakt. Als aktives Mitglied der IG Rentnerinnen und Rentner, als Ehemann einer pensionierten Pflegedienstleiterin, beim Besuch seiner mittlerweile verstorbenen Mutter im Altersheim. Deshalb weiss er schon heute, worauf er bei der Wahl eines Heims achten wird, wenn es denn soweit kommt: «Ich wünsche mir ein Heim, wo die Mitarbeitenden Zeit haben. Das ist das Wichtigste.»
IM ZENTRUM: DIE PFLEGENDEN
Zeit. Genau die fehlt heute den Pflegenden in sehr vielen Heimen. Das zeigt jetzt schonungslos eine gemeinsame Studie der Fachhochschule Südschweiz und der Unia. Zum ersten Mal überhaupt stellte das Projekt diejenigen in den Mittelpunkt der Forschung, die sich am besten mit Langzeitpflege auskennen: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Alters- und Pflegeheimen. Rund 30 von ihnen diskutierten in Gruppen, was für sie gute Pflege bedeutet. Unter der Leitung von Nicolas Pons-Vignon, Professor für Arbeitswandel und soziale Innovation, werteten Forschende die Gespräche wissenschaftlich aus. Erste Erkenntnisse präsentierte die Unia letzten Herbst an einer Fachtagung, jetzt liegt die Studie vor.
AUF DIE MINUTE GENAU
Demnach gehört der Zeitmangel zu den Problemen, mit denen die Pflegenden am stärksten zu kämpfen haben. Sie habe manchmal das Gefühl, nicht mit Menschen zu arbeiten, sondern «an einem Fliessband», so eine Pflegende. Denn ob Nägel schneiden oder Blutzucker messen: Für jeden Arbeitsschritt sei genau festgeschrieben, wieviel Zeit er in Anspruch nehmen dürfe. Das daraus errechnete Zeitbudget pro Bewohnerin und Bewohner sei nicht nur zu knapp bemessen, kritisierte eine andere Teilnehmerin, es lasse auch keinen Raum für Unvorhergesehenes. Dabei mache gerade eine gute Pflegekraft aus, dass sie angemessen auf Situationen reagieren könne. Ihr Urteil über die minutengenauen Vorgaben war deshalb kategorisch: «Dieses schnelle Tempo entspricht nicht dem Alltag.»
Die Studie hält fest: Statt gut zu pflegen, sind Mitarbeitende täglich gezwungen, Pflege zu rationieren. Und das frustriert. Ein Pflegender sagte es so: «Wenn die Realität so weit entfernt ist von dem, was ich von mir erwarte – dann gehe ich jeden Abend mit hängendem Kopf heim.» Der Teufelskreis ist komplett: Frustrierte oder ausgebrannte Pflegende verlassen den Beruf, den Heimen fehlt es an Personal, dieses hat noch weniger Zeit für die Bewohnerinnen und Bewohner.
DAS SYSTEM HAT FEHLER
Coronapandemie und Pflegeinitiative machten deutlich: Kurzfristig braucht es in den Heimen, wie auch in den Spitälern und der Spitex, bessere Arbeitsbedingungen. Doch die Pflegenden, die in der Studie zu Wort kommen, machen klar: Damit ist es nicht getan. Ihre Kritik stellt das System in Frage, nach dem seit rund 20 Jahren ein Heim finanziert wird. Wieviel Geld es von Krankenkassen und öffentlicher Hand erhält, hängt einzig von den «Pflegestufen» der Menschen ab, die es beherbergt. Für Gesunde im Heim gibt’s weniger Entschädigung, für Kranke mehr. Grundlage ist ein umfangreicher Katalog mit Pflegeleistungen wie «Schlucktraining» oder «Katheter wechseln».
Dieser Katalog klammert aber etwas Entscheidendes aus. Etwas, das – da waren sich die Pflegenden in den Diskussionen einig – geradezu das Fundament einer guten Pflege bildet: eine gute Vertrauensbeziehung zwischen Pflegenden und den ihnen anvertrauten Menschen. Diese Beziehung entsteht im Alltag, oft durch vermeintliche Nebensächlichkeiten. Ein kurzes Gespräch, in dem es nicht ums Waschen, um Medikamente oder den Stuhlgang geht. Das den Bewohner, die Bewohnerin als Menschen wahrnimmt. Der oder die im Heim nicht nur ein paar Tage zur Behandlung ist. Sondern der hier zu Hause ist.
KEIN GELD FÜR DAS PFLEGEN DER BEZIEHUNG
Dafür braucht es Zeit. Nicht viel: ein paar Minuten, manchmal vielleicht zehn. Aber, so eine Pflegende: «Wenn ich zu 30 Leuten schauen muss und für alle zehn Minuten mehr brauche – dann sind das fünf Stunden.» Stunden, für die das Heim, im heutigen System, nicht entschädigt wird. Denn das Pflegen einer wertschätzenden Beziehung taucht beim Berechnen der Pflegestufen nicht auf.
Diese Fehlkonstruktion kommentieren die Fachkräfte unterschiedlich. Eine Pflegende kritisierte, dass dadurch die Bedürfnisse und Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner oft ignoriert würden: «Dabei sind es gerade solche Momente, die ein Leben in Würde ermöglichen!» Eine andere äusserte Unverständnis: «Wer hat das eigentlich so festgelegt? Wer bestimmt, wieviel Zeit jeder Pflegeschritt benötigt?»
Mehrere betonten, dank ihrer Ausbildung und Erfahrung hätten sie das beste Rüstzeug, um gute Pflege zu leisten. Die starren und zu knappen Zeitvorgaben des aktuellen Systems empfanden sie dagegen als Abwertung ihres Fachwissens. Einer der am häufigsten geäusserten Sätze, so die Studie, war: «Lasst uns Pflegende doch einfach unsere Arbeit machen!»
Hier geht es zur Kurzfassung der Studie.
Weiterwurschteln ist keine gute Idee
16 Jahre dauert es noch bis zum Jahr 2040. Bis dann, so rechnet das Bundesamt für Statistik, muss die Schweiz ungefähr 900 neue Altersheime bauen. Weil wir im Schnitt immer älter werden und jetzt die Babyboomer-Generation ins Rentenalter kommt. Für diese Heime braucht es 35’000 zusätzliche Pflegende.
Wenn wir weiter machen wie bisher, schaffen wir das nie. Schon jetzt haben wir 15‘790 Pflegende zuwenig: So viele Stelleninserate zählte die Jobsuchmaschine X28 im letzten November. Und Monat für Monat verlassen 300 bis 400 Pflegende den Beruf.
DIE WEICHEN STELLEN
Ob es uns gefällt oder nicht: Die steigende Lebenserwartung führt zu höheren gesellschaftlichen Kosten. Aber wir können jetzt die Weichen stellen. Samuel Burri, Co-Verantwortlicher Pflege bei der Unia, sagt es so: «Entweder wir investieren in den Ausbau des Angebots. Das sind Heime, betreutes Wohnen, Unterstützung zu Hause, Entlastung für pflegende Angehörige – alles mit guten Arbeitsbedingen. Oder wir zahlen die Kosten, wenn sich die Pflegekrise weiter verschärft.»
KEINE GUTEN AUSSICHTEN
Dann werden Heimplätze zur Mangelware. Reiche Senioren sichern sich die Residenz und das Personal für ein angenehmes Leben. Wer nicht ins Heim kann, ist angewiesen auf Betreuung durch Angehörige. Diese müssen dafür ihre Erwerbsarbeit reduzieren, was den Wohlstand verringert und den Fachkräftemangel verschärft. Und die Alten ohne Angehörige? Werden sie zu Hause verwahrlosen und landen irgendwann notfallmässig im Spital? Und die Gesellschaft zahlt den Preis dafür mit noch höheren Krankenkassenprämien? Lieber nicht.
Deshalb: Weiterwurschteln ist keine Option. Wegschauen auch nicht. Unia-Mann Burri sagt es so: «Wir müssen anerkennen, dass die steigende Zahl von Pensionierten uns als Gesellschaft herausfordert. Und dass Kosten auf uns zukommen. Es braucht einen neuen Generationenvertrag.»
Um die Debatte dazu zu lancieren, werden die Pflegenden in der Unia gemeinsam ein «Manifest für gute Pflege» erarbeiten. Im August ist zudem eine weitere breit abgestützte Fachtagung geplant. (che)