Als Oberärztin hatte Natalie Urwyler am Inselspital Bern steile Karrierechancen. Bis sie schwanger wurde. Es folgte ein zehnjähriger Kampf um Gleichstellung und Gerechtigkeit.
IM RECHT: Auch mit ihrer zweiten Klage hat Natalie Urwyler vor Gericht gesiegt. Das Gleichstellungsgebot wurde verletzt. (Foto: Keystone)
«Die Diskriminierung, die ich am Inselspital erlebt habe, hat meine Karriere vollständig zerstört», sagt Natalie Urwyler gegenüber work. Sie war im Berner Inselspital Oberärztin, lehrte an der Uni, forschte, war angehende Professorin. Ihr stand eine steile Karriere bevor. Doch 2014 wurde sie Mutter. Sie verlangte eine Pensumsreduktion auf 80 Prozent. Das Inselspital lehnte ab. Zudem wurde ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit gestrichen. Sie wusste: Das bedeutete das Ende ihrer Karriere.
Das liess sich die frischgebackene Mutter nicht gefallen. Sie wehrte sich gegen die Kündigung. Gestützt auf das Gleichstellungsgesetz, machte Urwyler eine Rachekündigung geltend. Und bekam 2018 auf ganzer Linie recht (work berichtete). Das Inselspital hat mit Urwylers Entlassung gegen das Gesetz verstossen. Das Urteil verlangte vom Inselspital, Urwyler wieder anzustellen. Doch das Spital stellte die Ärztin gleich wieder frei.
Urwyler klagte erneut. Und jetzt hat ihr das Regionalgericht Bern-Mittelland recht gegeben: Weil sie eine Frau ist, habe das Inselspital ihr die Beförderung verwehrt. Zudem sei ihr deswegen auch Geld aus dem privatärztlichen Honorarpool entgangen. Dies ist ein Geldtopf, aus dem die Klinik Beiträge an das Personal ausschüttet.
Doch der Fall ist auch nach zehn Jahren nicht abgeschlossen. Der letzte Verhandlungspunkt ist die finanzielle Entschädigung. Sie sagt: «Bis heute habe ich ungefähr eine halbe Million Schweizer Franken aufgewendet – ohne meine eigenen aufgewendeten Arbeitsstunden.» Insgesamt erreicht der Schaden die enorme Summe von 5 Millionen Franken. Deshalb hat Urwyler auf Schadenersatz geklagt. Es ist die Ultima Ratio, das letzte Mittel, das das Gleichstellungsgesetz vorsieht. Dieses Urteil steht noch aus. Gegenüber SRF wollte sich das Inselspital zum aktuellen Verhandlungsstand nicht äussern. Sicher ist: Der Prozess von Urwyler ist einmalig und das Urteil eine grosse Errungenschaft für die Gleichstellung hierzulande.
FRAUEN IN DER CHEFETAGE
So viel Geld, so viel Zeit, und doch wird der ganze Aufwand für Urwylers Karriere keinen grossen Unterschied mehr machen. Doch für die Ärztin geht es um die Zukunft. Sie sagt: «Wir haben zwar sehr viele gute Ärztinnen, generell sehr viele gut ausgebildete Frauen in der Schweiz. In Führungsfunktionen sind Frauen aber völlig untervertreten.» Dies habe zwei schwerwiegende Konsequenzen: Erstens verliere die Schweiz gut ausgebildete weibliche Fachkräfte, und zweitens seien nicht die Besten auf Führungspositionen.
Gerade in der Medizin gehe es mit der Gleichstellung nur sehr schleppend voran: «Ich kenne viele Frauen, die nach mir ein vergleichbares Schicksal erfahren haben. Das Problem der Diskriminierung von Frauen ist erst gelöst, wenn wir wirklich gemischte Führungsgremien haben.» Und auch zu Hause müsse Gleichstellung gelten, besonders bei der gerechten Aufteilung der Haushalts- und Betreuungsarbeit.
Und was würde Urwyler jungen Frauen ans Herz legen, die sich an ihrer Arbeitsstelle nicht fair behandelt fühlen? «Es ist nicht an den jungen Frauen, die Welt zu retten. Die Vorgesetzten müssen sich an die Gesetze halten. Ich möchte allen Chefinnen und Chefs ans Herz legen, sich ans Gesetz zu halten, ansonsten kann dies Konsequenzen haben.»
1136 Verfahrensfälle
Bislang wurden basierend auf dem schweizerischen Bundesgesetz für die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz) sowie auf dem Verfassungsgrundsatz der Lohngleichheit 1136 Verfahrensfälle eröffnet. Die Website www.gleichstellungsgesetz.ch dokumentiert die Fälle in einer umfassenden Datenbank, bietet Weiterbildungsangebote an und stellt Arbeitnehmenden umfassendes Infomaterial zu ihren Rechten zur Verfügung.