Wird vielen lärmgeplagten Mietenden bald noch mehr Krach zugemutet? Gut möglich, denn still und leise sägt das Parlament in Bern am Lärmschutz.
ZWEI WELTEN: Wer es sich leisten kann, kauft sich ein Haus im Grünen und geniesst dort seine Ruhe. Für die anderen gilt die Devise: Ohren zu und durch! (Fotos: Keystone)
Im vergangenen Dezember hiess der Ständerat einen Abbau beim Lärmschutz gut. Zwar dürfen Wohnbauten weiterhin nur bewilligt werden, wenn die Lärmgrenzwerte eingehalten werden. Doch künftig soll es genügen, wenn der Grenzwert nur noch in einem einzigen Raum am Fenster eingehalten wird (siehe Zweittext unten). Bei kontrollierter Lüftung sollen sogar noch höhere Lärmwerte möglich sein, da hier ja die Fenster geschlossen sein sollten.
Sowohl der schweizerische Mieterinnen- und Mieterverband (MV) als auch die Lärmliga Schweiz schlagen jetzt Alarm. «Die Auswirkungen sind immens», sagt Linda Rosenkranz, Generalsekretärin des MV, «sie würden zu einer massiven Einschränkung der Wohnqualität führen.» Die Lärmliga wirft dem Ständerat Kapitulation vor dem Lärmschutz vor. Diese Woche war der Nationalrat an der Reihe und er hat wie die kleine Kammer eine massive Schwächung des Lärmschutzes beschlossen. Die Lärmliga Schweiz will das so nicht einfach hinnehmen und kündigt an: «Falls die Vorlage in der Differenzbereinigung nicht substanziell verbessert wird, werden wir das Referendum gegen die missratene Vorlage ergreifen.»
OHREN ZU BEIM LÜFTEN
Während Reiche und Gutsituierte in ruhigen Quartieren mit viel Grün leben, müssen sich Wenigverdienende an verkehrsreichen Strassen die Ohren zuhalten, wenn sie lüften wollen. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Gesundheit: Dauerhafter Lärm schädigt den Menschen erwiesenermassen. Die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz rechnen aufgrund von nationalen Studien vor, dass Gesundheitsschäden bereits ab 40 bis 45 Dezibel (dB) auftreten. Das ist noch unterhalb des geltenden Grenzwerts für Wohngebiete von 45 dB nachts und 55 dB am Tag. Solche Schäden treten an Herz, Kreislauf und Psyche zutage. Sogar vorzeitige Todesfälle seien möglich. «Lärm ist nachts speziell belastend, da wiederholtes Aufwachen die Erholungsphase beeinträchtigt», warnt die Vereinigung. Sie kritisiert zudem, dass die geltenden Lärmgrenzwerte zu hoch seien, da sie auf veralteten Grundlagen beruhten.
BUND WARNT
Pikant: Selbst der Bund, aber auch kantonale Fachstellen wie der Verein Cercle Bruit warnen ständig vor zu viel krankmachendem Lärm. Die Eidgenössische Kommission für Lärmbekämpfung will aufgrund neuer Erkenntnisse gewisse Immissionsschutzgrenzwerte um etwa 3 dB erhöhen. Die Grenzwerte müssten für alle lärmempfindlichen Räume gelten, so das Gremium. Der Ständerat hat jetzt aber just das Gegenteil beschlossen. Er will den widerrechtlichen Zustand einfach legalisieren. Einen linksgrünen Kompromissantrag, wonach die Hälfte der Wohnungsräume die Lärmgrenzwerte einhalten müssten, schmetterte der Ständerat ab.
TODESFÄLLE
Nicht weniger pikant: Bürgerliche rechtfertigen den geplanten Abbau ausgerechnet mit ökologischen Gründen. Die Verdichtung in Städten und Ortschaften sei nötig, sonst müssten die dringend nötigen neuen Wohnungen auf der grünen Wiese gebaut werden. So etwa der Appenzeller Mitte-Standesherr Daniel Fässler, der zu Hause am Säntis auf viele grüne Matten blicken kann. Da nützte die Warnung von Mietervertreter und MV-Präsident Carlo Sommaruga aus dem hochverdichteten Genf wenig. Er wies darauf hin, dass die Europäische Umweltagentur bereits von jährlich 10 000 vorzeitigen Todesfällen wegen zu hoher Lärmbelastung spricht.
Lärmschutz:Ein nationales Trauerspiel
Der Schutz vor Lärm ist eines der grössten politischen Trauerspiele in der Schweiz. Seit 1987 müssen die Kantone lärmige Quellen beseitigen. Wenn das nicht möglich ist, muss saniert werden. Die Fristen wurden mehrmals verlängert, ohne grosse Wirkung. Die grösste Lärmquelle sind die Strassen, gefolgt von Bahn- und Flugverkehr. Die Kantone begnügten sich mit der Subventionierung von Lärmschutzfenstern und dem Bau von Schallschutzwänden.
GETRICKST. Und sie griffen zu Tricks, um in lärmbelasteten Gebieten trotzdem Wohnbauten bewilligen zu können: Wenn nur in einem «Lüftungsfenster» statt in der ganzen Wohnung der Grenzwert eingehalten wurde, wurde die Bewilligung erteilt. Ein Trick, den das Bundesgericht vor acht Jahren für unzulässig erklärte. Das Resultat: Heute sind mindestens 1,1 Millionen Menschen in ihren Wohnungen an stark befahrenen Strassen rechtswidrig übermässigem Lärm ausgesetzt.