Historikerin Sonja Matter über ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte
«Unter dem Deckmantel der Erziehung wurden Mädchen zu harter Arbeit gezwungen»

Bis in die 1970er Jahre mussten junge Frauen für Schweizer Fabrikherren Knochenarbeit leisten. Ohne Lohn, ohne Freizeit, ohne Freiheit. Sonja Matter ist Direktorin des «Historischen Lexikons der Schweiz» und hat über diese Zwangsarbeit geforscht.

UNRECHT: Historikerin Sonja Matter sagt, dass Zwangsarbeit in der Schweiz seit 1941 zwar verboten war, in Fabrikheimen jedoch weiter praktiziert wurde. (Foto: Raphael Moser/Tamedia AG)

work: Frau Matter, gab es in der Schweiz tatsächlich bis vor nicht einmal fünfzig Jahren Zwangsarbeit?
Sonja Matter: Ja, in der Tat gab es im 20. Jahrhundert Anstalten in der Schweiz, in denen administrativ versorgte Jugendliche und Erwachsene zur Arbeit gezwungen wurden. In mehreren solcher Heime lebten Mädchen und junge Frauen. Unter dem Deckmantel der «Erziehung» wurden sie zu harter Arbeit gezwungen, hatten kaum Freizeit und keine Freiheiten. Eine Lehre oder sonstige Ausbildung war nicht vorgesehen.

Wessen Töchter wurden in solche Heime gesteckt?
Die Behörden ordneten Fremdplazierungen vor allem bei Familien der sozialen Unterschicht an. Besonders alleinerziehende Frauen waren von dieser Massnahme betroffen. Gerade geschiedene und ledige Mütter erfüllten die gesellschaftlichen Normen nicht, wie sie bis weit ins 20. Jahrhundert vorherrschten. Die Behörden erachteten eine Heimeinweisung der Kinder als legitime Massnahme und intervenierten in sogenannt unvollständigen Familien. Aber es gab auch weitere Gründe.

Welche?
Junge Mädchen, die sich nicht normkonform verhielten, gerieten in den Fokus der Behörden. Zum Beispiel junge Frauen, die Sex hatten. Bis in die 1950er und 1960er Jahre war jungen Frauen Sex vor der Ehe untersagt, und Schwangerschaften von Teenagern waren höchst stigmatisiert. Diese Mädchen wollten die Behörden durch Arbeit «erziehen».

Woher kommt diese absurde Idee?  
Die Idee der «Erziehung zur Arbeit» hat eine lange Vorgeschichte. Seit dem 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Arbeitsanstalten gegründet, um Armut zu bekämpfen. Die Argumentation war: Die Armen muss man dazu bringen, regelmässig zu arbeiten, und dann lässt sich das Armutsproblem lösen. Die Anstalten waren vielfach mit einem Landwirtschaftsbetrieb verknüpft, teilweise aber auch mit Stätten industrieller Produktion. Klar ist: Solche Anstalten bauten auf der Arbeit der eingewiesenen Menschen auf, damit sie den Staat möglichst wenig kosteten. Für die Betroffenen bedeutete eine Anstaltseinweisung in der Regel keine Verbesserung ihrer Situation. Im Gegenteil: Viele wurden durch die Anstaltseinweisung traumatisiert und blieben armutsbetroffen. Aufgrund eines internationalen Übereinkommens war die Zwangsarbeit seit 1941 in der Schweiz zwar verboten, sie wurde jedoch weiterhin praktiziert. Auch in den Fabrikheimen, in denen Mädchen administrativ versorgt wurden.

Wie muss man sich die Zwangsarbeit in den Fabriken vorstellen?
In den 1950er und 1960er Jahren bestand in der Textil- und der Uhrenindustrie eine grosse Nachfrage nach billigen Arbeitskräften. Der Zugriff auf administrativ versorgte Mädchen war für Fabrikherren eine willkommene Möglichkeit, diesen Mangel zu überbrücken. Klar ist: Die Mädchen waren nicht freiwillig in Fabrikheimen. Sie wurden gegen ihren Willen und teilweise auch gegen den Willen ihrer Eltern eingewiesen. Im Fokus stand keine Aus- oder Weiterbildung, sondern Arbeit mit einem kommerziellen Ziel. Die Mädchen verrichteten monotone Aufgaben unter dem strengen Fabrikregime und erhielten dafür keinen Lohn.

Wer führte diese Heime?
Die Leitung zahlreicher Mädchenheime lag in der Hand von katholischen Schwestern. Für den Staat war dieses Engagement vorteilhaft, weil er so Kosten sparen konnte. Die Schwestern arbeiteten für ein bescheidenes Gehalt. Wie Zeitzeuginnen berichten, konnten die Zwangsarbeiterinnen teilweise Beziehungen zu einzelnen Schwestern aufbauen. Doch vielfach litten sie unter dem strengen Regime und gewalttätigen Verhalten der Ordensfrauen.

Hat sich denn niemand für diese Zwangsarbeiterinnen eingesetzt?
Frauen hatten bis 1971 in der Schweiz kein Stimmrecht und waren somit nicht gleichwertige Bürgerinnen. Zudem waren Frauen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, sie verdienten deutlich weniger als Männer. Diese Diskriminierungen schwächten die Position der administrativ versorgten Mädchen zusätzlich. Zwar waren Zeitgenossen die massiven Rechtsverletzungen der Mädchen in den Fabrikheimen bekannt, doch setzte sich niemand für sie ein. Weder von den Gewerkschaften noch von der Politik oder der Frauenbewegung gab es Unterstützung. Die administrativ versorgten Mädchen gehörten zur untersten Gesellschaftsschicht, die keine Lobby hatte.

Haben sich die Mädchen selber gegen die Umstände in den Heimen gewehrt?
Ja, einige der Mädchen waren richtige Kämpferinnen! Etliche versuchten aus den Heimen zu flüchten, nur wenigen gelang dies jedoch. 1981 wurde die administrative Versorgung schliesslich in der Schweiz aufgehoben. Heisst: Behörden dürfen seither keine Menschen ohne Gerichtsentscheid in Anstalten versorgen. Aber schon früher zeichnete sich ein Rückgang der Heimeinweisungen von Jugendlichen ab.

Inwiefern?
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging die Zahl der Ordensleute stark zurück, und damit fehlte zahlreichen Anstalten das Personal. Heimeinweisungen wurden kostspieliger und damit weniger attraktiv.

Wie ging das Leben der Mädchen nach der Heimzeit weiter?
Mit dem Erreichen der Volljährigkeit durften die Mädchen die Fabrikheime verlassen. Die Lebensläufe von ehemaligen Heimkindern sind unterschiedlich. Einzelne konnten sich in den Arbeitsmarkt integrieren und ein stabiles soziales Netzwerk aufbauen. Viele litten ihr ganzes Leben unter den negativen Erfahrungen während ihrer Kindheit und Jugend. Ehemals versorgte Frauen ohne Bildung und Einkommen fanden sich mit einer Ehe in neuer Abhängigkeit wieder. Und sie wurden gesellschaftlich lange stigmatisiert. Deshalb haben viele Frauen ihre Heimvergangenheit komplett vertuscht – bis heute!

Zur Person: Expertin der Frauengeschichte

Sonja Matter (48) ist seit vergangenem Sommer Direktorin des «Historischen Lexikons der Schweiz». Sie studierte an der Universität Bern Geschichte und dissertierte 2009. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der Geschichte der Armut. Zurzeit forscht sie zum Thema Zwangsarbeit im Kanton Nidwalden.

Das «Historische Lexikon der Schweiz» publiziert Artikel zur Geschichte der administrativen Versorgung. Es vermittelt Wissen zur Zwangsfürsorge und Fremdplazierung, zu Anstalten und Biographien. Die Artikel erscheinen in mehreren Sprachen und sind online frei zugänglich.

1 Kommentare

  1. Yvonne Pesenti 5. März 2024 um 14:35 Uhr

    Zu diesem Thema habe ich 1988 einen Dokumentarfilm gemacht (Rgazze di convitto, Produktion SRG-RSI).
    Das Buch zur Geschichte der Arbeiterinnenheime (1860-1970) erscheint im Juni 2024.

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