Berufsrevolutionär, Bestsellerautor, Bombenleger: Zum 90. Geburtstag von Jean Ziegler
«Ich glaube an die Auferstehung»

Bücher sind seine Waffen, moralischer Zorn treibt ihn an. Soziologe Jean Ziegler ist für manche ein rotes Tuch, für viele ein Held. Immer unbequem, immer widersprüchlich: stur und charmant, unbeirrbar und offen, Marxist und Katholik, bürgerlich geborener Linker, Genfer aus Thun. work hat den prominenten Schweizer Autor und work-Kolumnisten zum grossen Geburtstags­gespräch getroffen.

GETRIEBEN: Jean Ziegler wird auch mit 90 Jahren nicht müde, gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt anzuschreiben. (Foto: Laurent Guiraud/Tribune de Genève)

work: Herr Ziegler, Sie werden 90, herzliche Gratulation!
Jean Ziegler: Ja, gopferdeckel! Aber wir müssen über wichtigere Dinge sprechen. Über Gaza, über den Hunger …

Dieser Tage erscheint die aktualisierte Neuauflage Ihres Buches von 1999 «Wie kommt der Hunger in die Welt». Hunger tötet, damals wie heute. Ist das nicht zum Verzweifeln?
Ob der kleinbürgerliche Mensch Ziegler aus Genf daran verzweifelt, spielt keine Rolle. Hunger ist ein absoluter Skandal unserer Zeit! Noch immer stirbt alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Wenn ich dagegen nichts tun würde, könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen. Ich will nicht Komplize dieser Morde sein.

Das ist Ihr Mantra: Jeder Mensch, der an Hunger stirbt, wird ermordet.
Heute entscheidet die Kaufkraft über den ­Zugang zu Nahrung. Wir brauchen ein Menschenrecht, das diesen Zugang garantiert. Die weltweite Landwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren, also weit mehr als die heutige Welt­bevölkerung von acht Milliarden. Hunger ist kein Naturgesetz, sondern gemacht. Zehn transkontinentale Grosskonzerne kon­trollieren ­Produktion und Transport, Preise und Verteilung von 85 Prozent der Nahrungsmittel. Sie entscheiden also, wer zu essen hat und überlebt, wer hungert und stirbt. Das ist die kannibalische Weltordnung.

Das Uno-Kinderhilfswerk Unicef be­richtet von einer Hungersnot in Gaza. Wie schätzen Sie die Lage dort ein?
Israel blockiert vollständig die Wasser-, Nahrungs- und Medikamentenlieferungen nach Gaza. Tausende Kinder sind bereits gestorben. Aber ich muss da etwas ausholen.

Bitte!
Am 7. Oktober überfielen Hamas-Kämpfer Israel. Sie töteten 1200 Menschen und entführten über 200 Geiseln. Es gibt keine Entschuldigung für diese Taten – weder politisch noch ­religiös. Noch am selben Tag schlug Israel zurück. Artikel 51 der Uno-Charta bestätigt das Recht auf Selbstverteidigung. Gleichzeitig aber begann Israel den fürchterlichen Vernichtungskrieg gegen die unschuldige Zivilbevölkerung von Gaza. Die Uno zählt weit über 30 000 Tote und 270 000 Schwerverletzte, 10 000 Menschen werden noch vermisst. 70 Prozent der Opfer sind Frauen und Kinder. Israel begeht in Gaza Völkermord nach Artikel 6 der Völkermordskonvention von 1948. Und die USA machen sich zur Komplizin. Aber auch die Schweiz. Es gibt einen Kooperationsvertrag zwischen dem israelischen Waffenhersteller Elbit Systems und dem Schweizer Rüstungskonzern Ruag. Dabei geht es um die gemeinsame Weiterentwicklung der Kampfdrohne «Hermes 900». Elbit ist auch am 1,6 Milliarden Franken teuren Projekt TKA (Telekommunikation der Schweizer Armee) beteiligt. Das ist eine Schande für die Schweiz.

Die Uno hat eine Resolution für Waffenstillstand in Gaza verabschiedet. Ohne Wirkung. Wie geht es den Vereinten Nationen?
Nur der weltweite Aufstand des Gewissens könnte sie vor dem endgültigen Zerfall be­wahren.

Diesem «Aufstand des Gewissens» fühlen Sie sich verpflichtet?
Ich bin unglaublich privilegiert, lebe in einem freien Land, kann publizieren, bin gesund. Als Uno-Sonderberichterstatter habe ich fürchterliche Dinge gesehen, die ich nie vergessen werde. Das treibt mich um, gibt mir ein Gefühl von Verantwortung.

In Ihrem Geburtsjahr 1934 war die Welt eine andere. Ist sie heute ein besserer Ort?
Nein. So gross wie heute war die mörderische Ungleichheit noch nie. Die 500 grössten transkontinentalen Konzerne der Welt kontrollieren 52,8 Prozent des Weltsozialprodukts. Diese Konzerne haben eine ideologische, militärische, finanzielle und politische Macht, wie sie nie ein Kaiser oder ein König oder ein Papst je hatte. Ihre einzige Strategie ist Profitmaximierung in möglichst kurzer Zeit.

In meiner Wahrnehmung war «der Ziegler» schon immer da. Als Anwalt der Hungernden und Unterdrückten, aber auch als «Nestbeschmutzer», immer unbequem. Wie wurde aus Hans «der Ziegler»?
Ich bin in Thun in einem bürgerlichen, liebevollen Milieu aufgewachsen. Im Winter fuhr ich zweimal pro Woche am Viehmarkt vorbei, da waren die Verdingkinder, mit Holzschuhen und zerrissenen Kleidern, unternährt. Und daneben, im Gasthof, die Grossbauern, die es sich gutgehen liessen. Auf meine Fragen antwortete mein Vater, ein gläubiger Calvinist und Richter, das sei «gottgewollt». «Mach dini Sach!» sagte er zu mir, die Welt könne ich nicht ändern. Das konnte ich nicht akzeptieren. Ich habe mich furchtbar schlecht benommen, mich mit meinem Vater zerstritten. Später bin ich nach Paris durchgebrannt.

Dort begegneten Sie dem Philosophen Jean-Paul Sartre und der Philosophin Simone de Beauvoir.
Ja, das war prägend! Der warmherzige, grosszügige Sartre hat mir die Welt erklärt. Ich war Mitglied der kommunistischen Studentenbewegung Clarté, wir haben die algerischen Befreiungskämpfer unterstützt. Mit einer Solidaritätsbrigade von Clarté war ich auch auf Kuba. Wir hätten Zuckerrohr schneiden sollen, waren jedoch keine grosse Hilfe. Aber in der Küche des Hotels Habana Libre diskutierten wir mit Raúl und Fidel Castro, Armando Hart und Che Guevara.

An Ches Seite wollten Sie in die Revolu­tion ziehen.
Ja. Er war 1964 Chef der kubanischen Delegation an der Zuckerrohrkonferenz in Genf und ich sein Chauffeur. Am Abend vor seiner Abreise sagte ich: «Comandante, ich will mit euch gehen.» Doch er hat mich im Hotel Intercontinental zum Fenster geführt. Dort blickten wir auf die Leuchtschriften der Banken und Konzerne in der Bucht von Genf. Er sagte: «Hier bist du geboren, das ist das Gehirn des Monsters. Hier musst du kämpfen.» Dann drehte er sich um und ging weg.

Und Sie waren am Boden zerstört.
Rückblickend weiss ich, Che hat mir das Leben gerettet. Ich wäre wohl längst verscharrt irgendwo in Guatemala, Venezuela oder Bolivien. Und er hat mir den Weg der subversiven Inte­gration gezeigt: in die Institutionen eintreten und ihre Kraft für die revolutionären Ziele ­nutzen.

Sie haben einmal gesagt, nur «Idealist» sei für Sie eine schlimmere Beleidigung als «Sozialdemokrat». Trotzdem ­waren Sie fast dreissig Jahre für die SP im ­Nationalrat …
Immer habe ich versucht, meine Kraft als Parlamentarier, als Professor an den Universitäten und später in der Uno für die Revolution zu nutzen. Diese Strategie verfolge ich noch heute, zum Beispiel indem ich mit work spreche, der Zeitung der grossen Gewerkschaft Unia.

Und was ist mit dem Idealisten?
Ein Idealist ist jemand, der im Himmel Turnübungen macht. Der Mensch ist, was er tut. Sarte sagt: «Den Feind erkennen, den Feind bekämpfen.»

Wer ist der übelste Feind?
Die Finanzoligarchie. Wir leben unter der brutalen Weltdiktatur des Finanzkapitals.

Sie haben dazu beigetragen, dass das Bankgeheimnis aufgeweicht wurde, indem Sie die Rückgabe des Nazi-Raub­goldes an die jüdischen Besitzerinnen und Besitzer gefordert haben …
… und das Bankgeheimnis ist noch lange nicht tot! Der wirkliche Skandal ist ja, dass Ultrareiche in Steuerparadiesen ihre riesigen Vermögen verstecken können. Raymond Kendall, der ehemalige Interpol-Chef, hat gesagt: «Wenn ein Geldbetrag dreimal die Identität wechselt, kann man den Ursprung nicht mehr feststellen.» Doch vor zwei Jahren hat es das eidgenössische Parlament abgelehnt, die Anwältinnen und Anwälte und Treuhänder dazu zu verpflichten, die wahren Besitzer der versteckten Gelder zu offenbaren.

Der Schweizer Finanzplatz hilft also bei der Plünderung kräftig mit?
Die Schweizer Bankenoligarchie ist mit Blut- und Fluchtgeld reich geworden. Zum Beispiel der kongolesische Diktator Mobutu: Er hat 2,2 Milliarden Schweizerfranken in den Genfer Banken gebunkert, dafür gibt es in Kongo kaum funktionierende Spitäler. Ich habe dazu beigetragen, etwas Transparenz zu schaffen.

Als Uno-Mitarbeiter lebten Sie fast zwei Jahre in Kongo. Danach berichteten Sie Sartre darüber.
Er sagte: «Das müssen Sie schreiben!» Er selbst kannte Afrika kaum. Ich schrieb den Text auf französisch, Simone de Beauvoir redigierte ihn. Und änderte meinen Namen zu Jean, weil Hans kein Name sei. Dieser Artikel, publiziert in der Zeitschrift «Temps Modernes», und die Fürsprache von Sartre haben mir die Tür zu den grossen Verlagen geöffnet.

Und Bücher wurden zu Ihrer Waffe. Was haben Sie damit bewirkt?
Bis vor gut 50 Jahren war die Theorie von Malthus weit verbreitet. Dieser britische Pfarrer vertrat im 18. Jahrhundert die Meinung, dass Hunger zwar ein Elend, aber gottgewollt sei, um das Bevölkerungswachstum zu regulieren. Diese Theorie hat den Kolonialisten gedient, als Rechtfertigung ihrer mörderischen Ausbeutungspolitik. Meine Bücher zeigen, dass Hunger menschgemacht ist und auch von Menschen aus der Welt geschafft werden könnte, mit ein paar einfachen Reformen. Was fehlt, ist der Wille.

Ihre Bücher haben Ihnen auch grosse Probleme bereitet.
Ja, nach Aufhebung meiner parlamentarischen Immunität hatte ich neun Prozesse am Hals in fünf verschiedenen Ländern. Ich habe alle verloren. Ich musste sehr viel Geld bezahlen, mein Lohn wurde gepfändet. Mein Haus gehört zum Glück meiner Frau Erica, sonst wäre ich obdachlos. Schlimmer als die Prozesse waren aber die Drohungen gegen meine Familie und zwei Sabotageversuche an meinem Auto.

Ihrer Frau Erica Deuber, Kunsthistorikerin und Kommunistin, verdanken Sie unendlich viel, sagen Sie immer wieder.
Es ist die totale Leidenschaft, seit dem ersten Tag. Ich rede ständig mit ihr, jeden Gedanken, den ich habe, alle Bücher, die ich schreibe, sind mit ihr zusammen entstanden.

In Ihren work-Kolumnen fragen Sie oft, «Wo ist Hoffnung?». Wo ist Hoffnung, Herr Ziegler?
Es entsteht eine neue planetarische Zivilgesellschaft mit den unglaublich vielfältigen sozialen Widerstandsbewegungen. Sie funktionieren nicht nach einem Parteiprogramm, ihr ­einziger Motor ist der kategorische Imperativ nach Kant: «Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.»

Zum Beispiel?
Die Frauenbewegung «MeToo». Weltweit haben sich Frauen gegen Gewalt und Diskriminierung zusammengeschlossen. Oder die Klimabewegung. Dort sind Widerstandsfronten entstanden, unerwartet und stark.

Ihr ganzes Leben haben Sie gearbeitet, um dem kannibalischen Kapitalismus gerechtere Verhältnisse abzutrotzen. Was treibt Sie an?
Die Kürze des Lebens!

Sagt der Neunzigjährige …
Ich lebe schon seit jungen Jahren in einer panischen Angst vor der Zeit, die vergeht, vor der Endlichkeit. Jeder Tag ist ein unerwartetes Wunder.

Aber was gibt Ihnen die Kraft, seit fast 90 Jahren jeden Tag aufs neue zu kämpfen?
Ich bin überzeugt, dass mein Leben einen Sinn hat. Es kann kein Zufall sein, dass ich auf der Welt bin. Auch die Geschichte hat einen Sinn: Sie ist die Menschwerdung des Menschen.

Ein religiöser Antrieb, also?
Nein, eine Evidenz.

1973 schrieben Sie: «Um die Angst vor dem eigenen Tod wenigstens teilweise zu mindern, gibt es nur einen Weg, den ich mühsam zu beschreiben versuche: Jeden Tag – durch Gedanken, Taten und Träume – so viel Glück für sich und die anderen, so viel Sinn zu erschaffen, dass am Ende des ­Lebens dieses Leben seiner eigenen Negation so viel Sinn wie möglich entgegenzustellen vermag.» Was denken Sie ein halbes Jahrhundert später darüber?
Es gibt so viel Liebe auf dieser Welt. Der Guerri-­llero, der sein Leben hingibt für die Gerechtigkeit, der politische Gefangene, der unter der Folter schweigt, um die Gefährten zu schützen. Die Liebe der Eltern für ihre Kinder. Die Liebe zu einer Frau oder zu einem Mann. Diese Liebe muss von irgendwoher kommen. Es scheint mir nicht möglich, dass bei all dieser Liebe das Leben im Nichts endet. Ich glaube an die Auferstehung. Der deutsche Pfarrer Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 auf Geheiss von Hitler hingerichtet. Am Vorabend schrieb er in seinem letzten Brief: «Morgen werde ich getötet, aber es wird nicht das Ende meines Lebens sein. Ich werde erwartet.»


Professor ZieglerDer Jean aus Genf

Jean Ziegler, ge­boren 1934 in Thun, lehrte bis zu seiner Pensionierung 2002 Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Bis 1999 war er SP-Nationalrat, von 2000 bis 2008 Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrats, als dessen Berater er heute noch tätig ist.

AUTOR

Ziegler hat 16 Bücher geschrieben, darunter zahlreiche internationale Bestseller, zum Beispiel «Die Schweiz, das Gold und die Toten» oder «Die Schweiz wäscht weisser. Die Finanzdrehscheibe des ­internationalen Verbrechens».

Neuauflage: Zieglers Globalisierungskritik

Warum sterben Menschen an Hunger, während anderswo Nahrungsmittel vernichtet werden? Kinderfragen, die den Finger in die Wunde ­legen, nimmt Jean Ziegler zum Anlass für seinen Klassiker der Globalisierungskritik. Er fordert radikales Umdenken und kritisiert die mörderische Diktatur des globalen ­Finanzkapitals.

Wie kommt der Hunger in die Welt Antworten auf die Fragen meines Sohnes. Penguin-Verlag, 192 Seiten. Aktualisierte Neuauflage.

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