Über eine Viertelmillion Menschen aus Portugal leben in der Schweiz. Wer sind diese Leute, die heute bei uns die drittgrösste Ausländergruppe stellen?
SCHLECHT GELAUNT: Der mächtige Steinlöwe vor dem portugiesischen Parlamentsgebäude in Lissabon muss mit ansehen, wie die Rechten die Macht übernehmen. (Foto: Keystone)
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Wenn an Stammtischen über «die Ausländer» gefachsimpelt wird, ist selten von Portugiesinnen und Portugiesen die Rede. Und das, obwohl sie mit aktuell über 260 000 Landsleuten die drittgrösste Ausländergruppe sind – nach den Italienerinnen und den Deutschen, aber vor den Franzosen und den Kosovarinnen. Sogar das Bundesamt für Migration gestand, dass über die portugiesische Diaspora «wenig bekannt» sei. Das Amt gab deshalb eine Studie in Auftrag, deren Resultate aufhorchen lassen.
ZUERST NUR OPPOSITIONELLE
Die portugiesische Einwanderung in die Schweiz ist ein relativ junges Phänomen. Die ersten Immigranten kamen um 1960 und vor allem nach Genf. Es waren vorwiegend Intellektuelle und von der Diktatur verfolgte Oppositionelle. 1980 lebten erst 10 000 Portugiesinnen und Portugiesen in der Schweiz. 2010 waren es schon zwanzig Mal mehr. Seit 2017 schrumpft die Community leicht. Dies vor allem, weil die erste Generation nun im Pensionsalter ist und mehrheitlich heimkehrt. Dennoch bleibt die Schweiz das wichtigste Zielland. Aus keinem anderen Land der Welt fliesst mehr Geld nach Portugal. 2023 schickten hier lebende Portugiesinnen und Portugiesen 1,08 Milliarden Euro in ihre Heimat, so viel wie noch nie. Und jedes Jahr kommen rund 10 000 neue Perspektivensuchende in die Schweiz. Nur Frankreich und Spanien verzeichnen ähnlich hohe Zuwanderungsraten aus Portugal.
Abflauen dürfte dieser Zustrom nicht so bald. Denn laut neusten Zahlen des Lissabonner Observatoriums für Emigration wollen immer noch dreissig Prozent der 15- bis 39jährigen auswandern. Schon heute ist Portugal das Land mit der höchsten Auswanderungsrate in Europa und einer der höchsten in der Welt. Insgesamt leben rund 2,3 Millionen Portugiesinnen und Portugiesen im Ausland. Davon sind 70 Prozent unter 39jährig.
JEDER VIERTE MANN BAUBÜEZER
Auch in der Schweiz liegt der portugiesische Altersschnitt unter jenem der Gesamtbevölkerung, entsprechend höher ist der Anteil an Berufstätigen. Aber auch die Arbeitslosenquote ist höher, was vor allem mit der Sprachbarriere und dem Ausbildungsgrad zusammenhängt: 2009 kam die erwähnte Bundesstudie zum Schluss, dass portugiesische Eltern «einen sehr niedrigen Bildungsstand» hätten im Vergleich zu anderen Migrationsgruppen. Schuld sei die Salazar-Diktatur. Diese führte den obligatorischen Schulunterricht erst 1960 ein. Allerdings endete die Schulpflicht bereits für 12jährige. Erst die Nelkenrevolution 1974 modernisierte das Bildungswesen. Die Folgen überdauern Generationen und zeigen sich auch in einem eingeschränkten Jobangebot: Portugiesische Männer finden in der Schweiz hauptsächlich auf dem Bau Arbeit (fast jeder vierte!), in der Industrie und der Landwirtschaft. Die Frauen arbeiten primär im Hotel- und Gastgewerbe, in der Reinigung oder im Verkauf. Innerhalb dieser Branchen wiederum besetzen Portugiesinnen und Portugiesen häufig unqualifizierte oder Hilfsarbeitsstellungen. Das wiederum schlägt sich in einem Durchschnittseinkommen nieder, das deutlich unterhalb von jenem der Schweizerinnen und übrigen EU-Einwanderer liegt.
FOLKLORE HOCH IM KURS
Die neueste Einwanderungsgeneration bringt nun teils deutlich höhere Bildungsabschlüsse mit. Das spürt auch die Arbeiterinnen- und Arbeitergewerkschaft Unia: Ihre gut 26 000 portugiesischen Mitglieder machen nach den Schweizerinnen und Schweizern die grösste Nationengruppe aus. Bei den organisierten Bauarbeitern sind die Portugiesen mit 33 Prozent sogar die grösste Gruppe. Doch dieses Verhältnis verschiebt sich allmählich. Nicole Niedermüller von der Unia Zürich-Schaffhausen sagt: «Die Jungen, die bei uns auf dem Bau nachkommen, stammen heute eher aus Ost- und Südosteuropa. Die jungen Portugiesen gehen vermehrt in andere Branchen.»
Ob junge oder ältere Generationen – eines scheinen alle zu teilen: die starke Verbundenheit mit dem Heimatland. Susana Pereira ist Unia-Juristin und Vizepräsidentin des Centro Lusitano Zürich, eines der grössten portugiesischen Vereine. Sie bestätigt: «Meine Landsleute hier sind sehr patriotisch.» Viele Jugendliche würden in Folklore-Gruppen mittanzen. In vielen Stuben laufe ausserdem täglich portugiesisches Fernsehen. Letzteres aber sieht Pereira durchaus auch kritisch: «Dort kann man ständig entnehmen, wie schlecht es dem Land geht.» Das habe der rechten Chega-Partei geholfen – und gerade in der Diaspora Spuren hinterlassen (siehe Box).
Schock bei Wahlen: Rechter Rekord in der Schweiz
In den vergangenen acht Jahren schwang in Portugal die Sozialistische Partei (PS) das Zepter, teils mit Unterstützung der Kommunisten und Linksaussenparteien. Diese Ära ist vorbei. Die wegen Korruptionsvorwürfen unter Druck geratene Regierung setzte auf den 10. März vorgezogene Parlamentswahlen an. Der Schuss ging nach hinten los: Die rechtskonservative Demokratische Allianz überholte die PS knapp. Als eigentliche Siegerin ging jedoch die selbsternannte «Anti-System-Partei» Chega (dt.: «es reicht!») hervor. Sie konnte ihre Sitze mehr als vervierfachen und ist mit neu 18 Prozent Wähleranteil die drittstärkste Kraft. Frontmann von Chega ist André Ventura, ein populärer Ex-Fussballkommentator.
JUNGE PROTESTWÄHLER. Am meisten punktete Ventura bei jungen Leuten – und in der Schweiz! Hier machten 33 Prozent der Wählenden ihr Kreuz bei Chega, was dem weltweit besten Chega-Resultat entspricht. Nur noch in Luxemburg wurden die Ultrarechten ebenfalls stärkste Kraft, holten dort aber «nur» 19 Prozent. Immerhin: Bei genauer Betrachtung relativiert sich der Schweizer Chega-Triumph. Denn nur jede und jeder dritte Wahlberechtigte ist überhaupt an eine der drei Urnen in Genf, Bern oder Zürich gegangen. Zudem wurden ein Drittel der abgegebenen Stimmen wegen nicht vorschriftsgemässer Wählerregistrierung für ungültig erklärt. Unter dem Strich hat deshalb von den gut 260 000 Portugiesinnen und Portugiesen in der Schweiz nur eine Minderheit von 16 000 extrem rechts gewählt.