Welchen Einfluss hatten Zugewanderte auf die Entwicklung von Winterthur? Und wie war es für sie, ein Leben in einer neuen Stadt zu beginnen? Antworten auf diese Fragen gibt die Ausstellung «Reality Check!» im Museum Schaffen.
ANKUNFT: Eine Gruppe Italienerinnen und Italiener 1968 am Hauptbahnhof in Zürich. (Foto: Comet Photo AG, Zürich, ETH-Bibliothek / Bildarchiv)
Italien, Nigeria, Serbien, Bolivien – Menschen aus diesen Ländern und vielen mehr prägen die Stadt Winterthur. Die Industriestadt ist seit Jahrzehnten ein beliebtes Ziel für Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Zugezogene beeinflussen die Stadt bis heute. Ihre Geschichten müssen erzählt werden, findet das Museum Schaffen. Mit seiner Sonderausstellung «Reality Check» widmet es sich diesem wichtigen Teil der Winterthurer Geschichte.
Mitte März öffnete die Ausstellung ihre Tore. An der Eröffnungsfeier platzte das kleine Museum aus allen Nähten. Der Andrang zeigt, wie wichtig solche Aufklärungsarbeit für Winterthurerinnen und Winterthurer ist. Die Ausstellung beginnt mit Fakten zu den Zuwanderinnen und Zuwanderern. Das Stadtbild ist bis heute von Lebensmittelgeschäften mit Spezialitäten aus der ganzen Welt geprägt. Deshalb wird auch italienisches Olivenöl oder Fufu, ein Brei, der zum Beispiel in Ghana gegessen wird, ausgestellt. Weiter zeigt das Museum auf, wie Migrantinnen und Migranten das Freizeitangebot der Stadt prägen. Zum Beispiel die Winterthurer Steinberggasse, eine belebte Strasse in der Altstadt. Diese wurde erst durch italienische Zuwandernde in den 60er Jahren zum Treffpunkt für die ganze Stadt. Geprägt sind Einwanderergeschichten aber nicht von gutem Essen und geselligen Abenden in der Steinberggasse, sondern von Hürdenläufen bei Behörden, Diskriminierung und Unterdrückung. Dem Museum Schaffen gelingt es, auch diese Realitäten aufzuzeigen.
LEBENSREALITÄTEN
Wer darf in der Schweiz arbeiten? Wer darf sich in der Schweiz aufhalten? Solche Fragen entscheiden bei Zuwandernden massgeblich über ihre Zukunft. Das komplexe Zulassungsverfahren regelt das Staatssekretariat für Migration (SEM). Im Museum Schaffen stehen in einem weissen, sterilen Raum an den Wänden die Regeln, an die sich ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter zu halten haben. «So viele Regeln? So viele Gründe, Menschen nicht in der Schweiz leben und arbeiten zu lassen?» fragt sich eine Museumbesucherin. Die strikten Regeln des SEM lassen einen fast vergessen, dass es hier um Menschen geht.
Im nächsten Ausstellungsraum erzählen mehrere Personen von ihrer Migrationsgeschichte. Darunter auch Luigi Fucentese, ein italienischer Industriearbeiter, der in den 60er Jahren nach Winterthur kam (work berichtete: rebrand.ly/dokumentarfilmsamir). Adriana Santos dagegen zog viele Jahre später von Bolivien nach Winterthur, nämlich im Jahr 2008. Ähnlich wie Fucentese organisierte sich Santos in der Schweiz gewerkschaftlich. In einem Video erzählt sie: «Die Gewerkschaft Unia war für mich eine wichtig Informationsstelle. Zudem habe ich hier Freundinnen kennengelernt, und das ist wichtig, um sich an einem neuen Ort wohl zu fühlen.» Santos sagt, dass eine Gewerkschaft wie die Unia, die mehrsprachig sei, diesen Menschen helfe.
Die ausgestellten Geschichten zeigen: Die Probleme der Migrantinnen und Migranten sind oft die gleichen und verbessern sich mit den Jahren nur schleppend. Nebst Ausgrenzungserfahrungen und Schwierigkeiten, Anschluss zu finden, ist die Arbeit für viele ein Knackpunkt. Zum Beispiel können viele Personen mit einem ausländischen Diplom ihren gelernten Beruf in der Schweiz nicht ausüben. Dass zeigt unter anderem die Geschichte von Maria Mendoza. In ihrem Heimatland Bolivien war sie als Juristin tätig, doch in der Schweiz war ihr Diplom nicht gültig. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie lange mit einem Job in der Reinigung, heute arbeitet sie in der Pflege.
WICHTIGE AUFKLÄRUNGSARBEIT
Die Ausstellung wagt einen Blick in die Zukunft. Wie können wir der Vielfalt in der Schweiz gerecht werden? Solchen komplexen Fragen stellt sich eine Reflexionsgruppe, bestehend aus mehreren Personen mit Migrationsgeschichte. Darunter Sarah Akanji, Fussballerin und Politikerin. Die Sonderausstellung ist eine gelungene Aufarbeitung der Winterthurer Migrationsgeschichte. Eine vorbildliche Aufklärung der Lebensrealität von vielen Menschen in der Schweiz, denn über 40 Prozent der Bevölkerung hierzulande haben eine Migrationsgeschichte.
Ausstellung Reality Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n), Museum Schaffen, Lagerplatz 9, Winterthur. Eintritt zwischen 9 und 12 Franken. Mehr Infos hier.