Während die Mehrheit in der Schweiz am 1. Mai arbeiten muss, kommt die einstige Büezerbastion Basel seit 101 Jahren in den Genuss eines Feiertags. Der Tag der Arbeit lässt sich aber auch heute noch befreien, wie der Kanton Neuenburg zeigt.
Quelle: work
Die Schweiz ist bekanntlich ein Sonderling, bestenfalls eine Spätzünderin. Das zeigt sich auch am 1. Mai. Während die halbe Welt den Tag der Arbeit längst als offiziellen Feiertag begeht, darunter fast alle EU-Staaten und alle Nachbarländer (einschliesslich Liechtensteins!), muss bei uns die grosse Mehrheit immer noch in den Stollen. Erst in acht Kantonen ist der Tag der Arbeit ein voller gesetzlicher Ruhetag (siehe Karte). Und das, obwohl hier einst Pioniertaten möglich waren: Der Stadtkanton Basel erhob den 1. Mai schon 1923 zum Feiertag. Damit waren die Bebbis nur sechs Jahre später dran als das revolutionäre Sowjetrussland und allen Nachbarländern voraus. Zwar hatte auch das Königreich Italien die Festa del lavoro 1922 zum Feiertag erklärt, doch Benito Mussolini machte diesen Schritt schon 1923 wieder rückgängig.
In der Folge geriet der 1. Mai auch in Basel unter Druck. Die bürgerliche Regierungsmehrheit wollte ihn 1935 aus dem Feiertagskalender streichen – zugunsten des 1. August. Damit kam sie in der roten Arbeiterhochburg zwar nicht durch. Doch der nächste Meilenstein rückte in weite Ferne.
LANGER SCHNAUF NÖTIG
Erst 1969 kürten auch Basel-Land und das Tessin den 1. Mai zum ordentlichen Ruhetag. 1971 folgte Zürich, 1972 Schaffhausen, 1981 der Thurgau. Von alleine ging freilich gar nichts. Überall brauchte es die Anstrengung der Gewerkschaften und Linksparteien. Und immer waren mehrere Anläufe nötig. In Schaffhausen etwa sagte die (männliche) Stimmbevölkerung noch 1963 knapp Nein zur 1.-Mai-Initiative der Unia-Vorgängergewerkschaft VHTL. 1971 war die Zeit aber überreif: 63 Prozent der Stimmenden (erstmals auch Frauen) sagten Ja zur SP-Initiative für den arbeitsfreien Tag der Arbeit. Ungleich schneller ging es im Jura: Als die Berner Untertanenregion 1978 ein eigenständiger Kanton wird, verankern die rebellischen Jurassierinnen und Jurassier die Fête du travail sofort in ihrer Verfassung.
BEWEGUNG SCHAFFT TATSACHEN
Gefeiert wurde am Jurabogen freilich schon viel früher – und zwar massenhaft. Den Uhrenfabrikanten blieb nichts anderes übrig, als die Feiern zu tolerieren. Und seit 1972 müssen sie sogar dafür bezahlen. Noch heute garantiert der Uhren-GAV den bezahlten freien 1. Mai.
Aber auch in anderen Industrieregionen machten die Lohnabhängigen ihren Kampftag zum inoffiziellen Feiertag. In Basel etwa musste der Regierungsrat schon 1921 feststellen, dass «weite Kreise ausserhalb der Arbeiterschaft sich mit der gesetzlichen Anerkennung des 1. Mai als Ruhetag abfinden, weil sie wissen, dass er ohnehin seit Jahren faktisch ein solcher war». Und aus Schaffhausen berichtet die VHTL-Zeitung 1962: «Hier gilt am
1. Mai seit Jahrzehnten: Die Maschinen stehen still; die Fabriktore bleiben geschlossen.» Nur im Gewerbe gebe es leider noch Chefs, die ihre Angestellten in die Betriebe zitierten. Das führe meistens zu «unliebsamen Auseinandersetzungen».
Nicht gerade Radau – zumindest nicht solchen –, aber doch einige Verwirrung kommt noch heute vor. Etwa im Kanton Solothurn, wo erst ab 12 Uhr Ruhetag ist. Diese schweizweit einmalige Regelung geht auf einen Kompromiss von 1964 zurück: Die Solothurner Konservativen boten für einen zusätzlichen Feiertag nur dann Hand, wenn dieser je hälftig auf den 1. Mai und den 1. August aufgeteilt würde. Als aber das Schweizer Stimmvolk den mythologischen Nationalgeburtstag im Jahr 1993 zum einzigen nationalen Feiertag macht, gibt es in Solothurn keine Kompensation für den bereits bestehenden halben Feiertag.
GEGEN AARGAUER WIRRWARR
Kurios läuft es bisweilen auch auf kommunaler Ebene ab, etwa in Biel und Bern, wo die städtischen Angestellten dank ihren Verbänden seit 1918 freibekommen. Und dies exklusiv. Denn das Kantonsparlament hat bisher sämtliche Vorstösse für einen allgemeinen Ruhetag abgelehnt, zuletzt im Jahr 2018.
Am grössten ist der Wirrwarr aber im Kanton Aargau. Dort dürfen am 1. Mai viele blaumachen, obwohl ein offizieller Ruhetag an der Urne bisher abgelehnt wurde. Stefan Dietrich, Co-Präsident der SP Aargau, sagt: «Bei uns gibt es grosse Unterschiede von Bezirk zu Bezirk, von Gemeinde zu Gemeinde, von Betrieb zu Betrieb.» Auch die Behörden handhaben es unterschiedlich: «Manche geben einen halben Tag frei, andere auch einen ganzen Tag.» Viele Aargauerinnen und Aargauer müssten aber arbeiten. Zumindest noch. Denn Dietrich hat diesem «Wildwuchs» den Kampf angesagt. «Der 1. Mai muss im ganzen Kanton arbeitsfrei werden!»
Dass solche Fortschritte auch im 21. Jahrhundert noch möglich sind, hat der Kanton Neuenburg bewiesen. Im dortigen Parlament hatte die Arbeiterunion schon 1905 einen Vorstoss für einen gesetzlichen Feiertag gemacht. Hundert Jahre später lancierte die Neuenburger Unia dazu eine Volksinitiative. Und 2010 war er da – der arbeitsfreie 1. Mai!
Konfessionsabhängig?Der 1. Mai und die Katholiken
Oft wird behauptet, es sei eine Frage der Konfession, ob ein Kanton am 1. Mai freigebe oder nicht. Das stimmt nicht ganz. Zwar sind die meisten «1.-Mai-Feiertagskantone» traditionell reformiert. Und im katholischen St. Gallen lehnte die Stimmbevölkerung 1973 den freien 1. Mai ab und wählte stattdessen den freien 1. November (Allerheiligen). Auch stimmt es, dass die bereits zahlreichen katholischen Feiertage die Einführung eines weiteren Feiertags nicht gerade erleichtern. Doch die beiden katholischen Stammlande Jura und Tessin sowie das geteilte Baselbiet zeigen, dass die Konfession nicht entscheidend ist. Den Ausschlag gibt vielmehr die Stärke der Gewerkschaften. Wobei es auch hier Ausnahmen gibt. So erkämpfte sich die Arbeiterschaft in der rechtsbürgerlichen Hochburg Thurgau aus einer klaren Minderheitsposition den freien 1. Mai, während im urban-sozialen Genf die Linke damit bisher gescheitert ist.