Am vergangenen Samstag kam es in Schaffhausen zu einem Volksaufmarsch, der in der jüngeren Stadtgeschichte beispiellos ist. Die Menschen sind empört darüber, wie eine verprügelte Frau von den Ermittlungsbehörden in Stich gelassen wurde.
«WIR WERDEN NIE MEHR SCHWEIGEN»: SP-Nationalrätin und Unia-Frau Tamara Funiciello hält in Schaffhausen eine bewegende Rede.
Unter dem Motto «Überlebende statt Täter schützen» versammelten sich am Samstag über 500 Personen vor dem Polizeiposten in Schaffhausen, um ihre Betroffenheit, Wut und Fassungslosigkeit im Fall von Fabienne W. kundzutun.
Auslöser war eine schockierende Recherche der SRF-Sendung «Rundschau». Darin schildert W., wie sie von einem Mann vergewaltigt worden war und später von einem stadtbekannten Anwalt unter Druck gesetzt worden sei, keine Anzeige zu erstatten. Videoaufnahmen zeigen zudem, wie sie in der Wohnung des Anwalts von mehreren Männern aufs übelste verprügelt wurde.
NOCH IMMER KEINE ANKLAGE
Der Beitrag wirft ausserdem Fragen auf zur polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungsarbeit. So hätten die Polizisten Beweismittel nicht oder erst ein Jahr nach der Tat konfisziert. Auch ist ein Polizist zu hören, wie er mit dem Anwalt einen kumpelhaften Schwatz hält. Und beim Betrachten des Prügelvideos sagt ein Polizist, dieses «Spiel» sei aber «auch nicht ohne». Die Staatsanwaltschaft wiederum hat offenbar auch nach zweieinhalb Jahren Ermittlungsarbeit noch keine Anklage gegen die mutmasslichen Täter erhoben. Sie sind nach wie vor auf freiem Fuss.
REGIERUNG LÄSST POLIZEIARBEIT UNTERSUCHEN
Neuste Recherchen der Schaffhauser AZ zeigen nun zwar, dass der Fall komplexer gelagert ist, als von der «Rundschau» vermittelt. Die Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden sind damit aber keineswegs vom Tisch. Heute hat nun endlich auch Polizeivorsteherin Cornelia Stamm Hurter (SVP) gehandelt: Die Schaffhauser Regierung werde die fragliche Polizeiarbeit von einem unabhängigen Strafrechtsexperten überprüfen lassen und die von Parlamentarierinnen angekündigte Interpellation seriös prüfen. Derweil hat eine Onlinepetition für mehr Opferschutz bereits über 9000 Unterzeichnende gefunden. Und auch die Kundgebung vom letzten Samstag wird noch lange nachhallen.
Eine äusserst bewegende Rede hielt vor Ort Tamara Funiciello, SP-Nationalrätin und Mitglied im Zentralvorstand der Unia (zum Video über diesen Link). Im Folgenden dokumentiert work den Redetext exklusiv:
«Ich bin so schockiert, so wütend, so fassungslos, ich weiss nicht, was ich noch sagen soll und wo ich beginnen soll.
Soll ich dort beginnen, wo einmal mehr eine Frau brutal von einer Gruppe Männern zusammengeschlagen, gedemütigt, vergewaltigt wurde?
Soll ich dort beginnen, wo man ihr nicht glaubt, sie einmal mehr allein lässt, sie bezahlen lässt, für das, was ihr angetan wurde, und ihr die Schuld gibt?
Soll ich dort beginnen, wo – Wissensstand heute – Polizisten Täter statt Opfer geschützt haben, sich mit ihnen angefreundet haben, ihre Arbeit verweigert haben, ihre Pflicht nicht erfüllt haben?
Soll ich dort beginnen, wo die Anwaltschaft uns dann erklärt, dass nichts schiefgelaufen und alles prima sei?
Soll ich dort beginnen, wo Männer Männer schützen, wo ein ganzes System darauf ausgelegt ist, uns nicht zu glauben, selbst dann nicht, wenn es Videoaufnahmen gibt? Ein System, das darauf ausgelegt ist, uns zu isolieren, zu diskreditieren, kleinzumachen? Soll ich dort beginnen, wo uns gesagt wird, wie schwierig es Männer hätten in dieser Gesellschaft, während wir verprügelt in Krankenhäusern liegen?
Oder soll ich dort beginnen, wo man uns sagt, wir sollen doch endlich schweigen?
Wir können, wir dürfen und wir werden nie mehr schweigen.
Wir werden uns nie mehr kleinmachen lassen.
Wir werden nie mehr alleine sein.
Darum sind wir heute hier – denn sie sollen wissen, dass wir keine von uns allein lassen.
Sie sollen wissen, dass ihre Handlungen Konsequenzen haben werden.
Sie sollen wissen, dass die Zeiten, in denen sie vertuschen, verstecken, verdrehen können, vorbei sind.
Sie sollen wissen, dass sie mit uns rechnen müssen.
Wir stehen hier und fordern eine Strafverfolgungsbehörde, die uns schützt.
Ein System, das uns gerecht behandelt.
Eine Gesellschaft, die uns glaubt.
Wir fordern Gerechtigkeit.
Wir fordern die unabhängige Untersuchung des Geschehenen, wir fordern obligatorische Schulungen für Strafverfolgungsbehörden, wir fordern opferzentrierte Verfahren, und wir fordern Mittel für Opferberatung – denn wir geben uns nicht mehr mit Worten zufrieden. Wir fordern konkrete Taten.
Wir stehen heute hier in Solidarität mit Fabienne W. und mit allen Opfern von männlicher und polizeilicher Gewalt.
In Erinnerung an all die Frauen und FLINTA, die nicht mehr hier stehen können, weil das System versagt hat.
Und selbst wenn uns die Worte fehlen, werden wir nie mehr leise sein!
Ni una menos!
Venceremos!
Dankeschön!»