Das offene Ohr
Krankentaggeld: Warum bekomme ich nur 80 Prozent meines Lohnes?

Ich bin Schreiner. Im Januar hat mich eine Grippe erwischt. Der Arzt hat mir eine ­Woche Bettruhe verschrieben. Als ich Ende Monat die Stundenabrechnung kon­trollierte, waren da 8,3 Minusstunden aufgeführt. In der Lohnabrechnung sah ich, dass ein Teil meines Lohnes nur zu 80 Prozent ausgezahlt wurde. Als ich im Personalbüro nachfragte, ­erklärte mir die HR-Fachperson, dass eine Krankentaggeldversicherung bestehe. Laut GAV zahle diese erst ab dem zweiten Tag der Ab­wesenheit. Der erste Tag werde mir deshalb als Minusstunden verbucht. Ab dem zweiten Tag müsse die ­Arbeitgeberin dann nur noch 80 Prozent des Lohns fortzahlen. Stimmt diese Aussage?

ERKRANKT: Ein Grippetag kann je nach Regelung im GAV zulasten der Arbeit­nehmenden gehen. (Foto: Adobe Stock)

MARINA WYSS: Ja. Im Gesamtarbeitsvertrag für das Schreinereigewerbe heisst es, dass die Arbeitgeberin die dem GAV unterstellten Arbeitnehmenden kollektiv für ein Krankentaggeld bei Arbeitsunfähigkeit zu versichern habe. Die Lohnfortzahlung ­müsse erst ab dem zweiten Tag der Arbeitsverhinderung geleistet werden, das steht so ausdrücklich im GAV. Das heisst, der erste Tag geht zulasten der Arbeitnehmenden. Wenn eine Krankentaggeldversicherung abgeschlossen ist, zahlt diese 80 Prozent des Lohnes. Falls Arbeitnehmende für eine ­längere Dauer krank sind, leistet die Krankentaggeldversicherung dafür Tag­gelder für rund zwei Jahre (720 Tage). Ohne eine ­Regelung in einem GAV muss die Arbeit­geberin den Lohn zwar ab dem ersten Tag zu 100 Prozent fortzahlen, jedoch für ­weniger lange Dauer.

Bruder im Spital: Bezahlte Absenz?

Mein Bruder ist alleinstehend und auf der Skipiste verunfallt. Er wurde ins Spital ­gebracht und ist ins Koma gefallen. ­Unsere Eltern leben nicht mehr, ich bin die einzige Ansprechperson. In meinem Arbeitsvertrag bzw. im GAV steht, dass für Spitalaufenthalte von ­Geschwistern und ­anderen Verwandten stundenweise ­Absenzen ohne Lohnabzug als Arbeitszeit verbucht werden dürfen. Ich habe nun die ersten 48 Stunden im Spital verbracht. Meine Arbeitgeberin verweigert mir die Gutschrift der Arbeitsstunden, weil ich nicht am ersten Tag ein Arztzeugnis ­vorgelegt habe. Rückdatierte Zeugnisse würden nicht akzeptiert. Ist das korrekt?

MARINA WYSS: Nein, das ist zu streng. Es gibt mittlerweile zwei Grundlagen für eine bezahlte Absenz in solchen Fällen. Viele ­Arbeitsverträge, aber auch GAV enthalten eine Tabelle, in der angegeben wird, für wie viele Stunden oder Tage Absenzen bezahlt werden. Auf den 1. Januar 2021 wurde zudem Artikel 329 h ins Obligationenrecht eingefügt. Für die Betreuung eines Fami­lienmitglieds, der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen besteht ein ­Anspruch für einen bezahlten Urlaub von höchstens drei Tagen pro Ereignis und höchstens 10 Tagen pro Jahr. Auch ­Geschwister fallen darunter. Einige Arbeitgeber haben in ihren Reglementen eine ­Zeugnispflicht aufgenommen. Es ist zwar so, dass die Arbeitnehmerin für die ­bezahlte Absenz den Beweis erbringen muss und Sie der Arbeit­geberin natürlich auch Rechenschaft ab­legen müssen. Doch eine Zeugnispflicht ab dem ersten Tag ist zu streng und würde dazu führen, dass diese Absenz gar nie bezogen werden könnte.

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