Mitten im Zweiten Weltkrieg trat Dora Stricker der Gewerkschaft bei. Seither ist sie ihr treu geblieben. Jetzt verrät die gelernte Verkäuferin warum – und was bei Coop früher besser war.
UNERMÜDLICH: Dora Stricker bleibt der Gewerkschaft auch weiterhin treu, «damit jemand da ist und hilft». (Foto: Michael Schoch)
Dora Stricker staunte nicht schlecht, als sie in ihrem Altersheim kürzlich Besuch erhielt. Und dann erst noch von zwei unbekannten Frauen! Sie brachten Blumen, einen Einkaufsgutschein und seien generell «ganz lieb und anständig» gewesen, sagt Stricker. Die Rede ist von den Unia-Sekretärinnen Angela Vicario und Sonia D’Amico. In Zürich sind sie für das Verkaufspersonal zuständig. Und als sie bemerkten, dass sie in Zürich eine regelrechte Veteranin hatten, wollten sie diese persönlich kennenlernen. Tatsächlich sticht Dora Stricker in der Unia heraus: Mit ihren 100 Jahren ist sie das älteste der fast 26 000 Mitglieder der Unia-Region Zürich-Schaffhausen. Zudem hält sie der Gewerkschaft seit 80 Jahren die Treue. Das ist eine der längsten Mitgliedschaften schweizweit. Doch für Dora Stricker ist beides nicht wirklich von Belang. Sie sieht sich nicht als etwas Besonderes. Eine ganz normale Büezerin sei sie gewesen.
OFFENE ATMOSPHÄRE BEI COOP
Aufgewachsen ist Stricker in der Nähe des Albisgütli in der Stadt Zürich. Trotz einfachen Verhältnissen habe es ihre Familie immer gut gehabt. Die Mutter kümmerte sich um die fünf Kinder, der Vater war Mechaniker. Sie selbst machte die Verkäuferinnenlehre bei Consum Baer, dem späteren Denner, und wechselte dann zum Lebensmittelverein Zürich, dem späteren Coop. Dort gefiel es ihr so gut, dass sie bis zur Pensionierung blieb. In die Gewerkschaft trat Stricker denn auch nicht wegen eines Arbeitskonflikts ein. Sondern, weil ein Chauffeur sie fragte. «Ich erinnere mich noch genau», sagt Stricker. Der Chauffeur sei nach dem Entladen seines Lastwagens einfach ins Filialbüro gelaufen und habe dort frischfröhlich für den VHTL geworben, die Gewerkschaft Verkauf, Handel, Transport, Lebensmittel (heute Unia). Die Vorgesetzten habe das nicht gestört, viele seien selbst im VHTL gewesen, genau wie die grosse Mehrheit von Strickers Kolleginnen und Kollegen. Damals habe halt noch eine offene Atmosphäre geherrscht, sagt die Hundertjährige und gibt ein Beispiel: «Einmal wollte mir einer auf der Gasse einen 1.-Mai-Bändel andrehen. Ich lehnte ab, da wir ja doch arbeiten mussten. Dann kaufte ich den Bändel trotzdem und trug ihn den ganzen Tag im Geschäft.» Das sei überhaupt kein Problem gewesen, «bei Coop sowieso nicht», sagt Stricker, «wir waren ja eine Genossenschaft».
BESUCH: Dora Stricker mit den Unia-Frauen Angela Vicario und Sonia D’Amico. (Foto: Unia)
DIE HOCHZEIT DER DÄNISCHEN KÖNIGIN
Dass sich die Zeiten etwas geändert haben, weiss Stricker. Schliesslich ist sie aufmerksame Radiohörerin und zählt bis heute zu den treuen Coop-Kundinnen. Sie habe zwar nichts gegen die Migros, sagt Stricker, doch die Verbundenheit bleibe halt. Zumal sie bei Coop Karriere gemacht habe. «Ich war zehn Jahre lang Filialleiterin in Albisrieden», sagt Stricker stolz, «und dann zehn Jahre Ladenbetreuerin für 16 verschiedene Filialen bis hinauf nach Wädenswil.» Zudem habe sie im Coop auch ihre grosse Liebe gefunden. Zwar ist ihr Mann mittlerweile verstorben, doch wenn Stricker von den Ehejahren spricht, strahlt sie. Besonders die Reisen nach Jugoslawien, Schweden oder Dänemark haben es ihr angetan. In Kopenhagen hatte das junge Paar sogar Gelegenheit, der Hochzeit von Königin Margrethe II. beizuwohnen.
Ob aber auch ihr Mann in der Gewerkschaft war, weiss Stricker nicht mehr. Jedenfalls sei er «dafür gewesen». Das ist kaum erstaunlich. Denn Ehemann Stricker wechselte irgendwann zu Oscar Weber, dem Gründer der EPA-Warenhäuser. Und weil Weber die branchenüblichen Löhne um 20 Prozent unterbot, kam es 1946 zum Streik. Erst nach zwei Wochen und einer stadtweiten Boykottbewegung hob Weber die Löhne an. Überhaupt sei es früher öfter mal hoch zu- und hergegangen, sagt Stricker. So auch in den dreissiger Jahren, als in Zürich die Faschisten aufmarschierten. Oder die Kommunisten, ebenfalls in Parteiuniformen, aber nach sowjetischem Vorbild. Letztere hätten vor allem im Kreis 4 «Krach gemacht», erinnert sich Stricker. Dort war auch ihr Mann aufgewachsen. Als Bub sei er mit seinen Kumpeln jeweils auf die Hausdächer gestiegen und habe dort Steindepots angelegt – um die Kommunisten zu bewerfen. «Wir Kinder hörten halt immer, das seien richtig böse Leute», erklärt Stricker.
IN DEN 1950ER JAHREN: Dora Stricker an der Waage der Konsumgenossenschaft, des heutigen Coop. (Foto: ZVG)
ALS ALLES ANDERS WURDE
Als sie sechzehn war, brach der Zweite Weltkrieg aus, und plötzlich war alles anders. Rationierte Lebensmittel, erschossene Landesverräter und immer wieder Luftalarm. Stricker: «Am Anfang rannten wir bei Sirenengeheul sofort in den Keller, aber irgendwann hatte man sich daran gewöhnt.» Nie vergessen werde sie jene Tage, als tatsächlich Bomben auf Zürich niedergingen. Insgesamt 84 Todesopfer gab es schweizweit durch alliierte Fehlbombardements. 1945 war Hitler endlich besiegt und Stricker «unglaublich froh». Der Friede habe alles erleichtert, auch die Arbeit im Coop, wo keine Lebensmittelmarken mehr kontrolliert werden mussten.
Und heute? Was rät sie den jungen Verkäuferinnen? «Ehrlich sein!» Und der Gewerkschaft beitreten? «Klar, damit man Rechte hat!» Sie jedenfalls bleibe weiterhin dabei. Den Jahresbeitrag von 120 Franken zahle sie gern. Aus Solidarität. Und «damit jemand da ist und hilft, falls etwas ist».
Also wenn Du mich fragst, ist das keine Kasse, sondern eine Waage. Aber mich fragt ja keiner …
Und es ist auch egal. Die Geschichte dieser Kollegin ist einfach grossartig – danke dafür!
Lieber Martin Winkler. Vielen lieben Dank, dass Sie uns darauf hingewiesen haben. Da ist uns ein Fehler passiert, den wir aufgrund Ihres Hinweises korrigiert haben. Liebe Grüsse aus der work-Redaktion