Jean Ziegler ‒ la suisse existe
Die Ehre der Schweiz

Jean Ziegler

Die Polizei kam am 15. Mai um 5 Uhr in der Früh. Sie stürmte das Gebäude und führte die Protestierenden in Handschellen ab. Es war das vorläufige Ende der Besetzung der Eingangshalle des Hauptgebäudes der Universität Genf. Über 500 Studierende aller Nationalitäten und Fakultäten, dar­unter zahlreiche Mitglieder der jüdischen Studierendenvereinigung, hatten die Uni friedlich besetzt. So wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen der Universitäten Lausanne, Freiburg, Luzern, Basel, Zürich, Neuenburg sowie der beiden technischen Hochschulen ETH Zürich und EPF Lausanne. Sie protestieren gegen die Massaker der israelischen Armee an der palästinen­sischen Zivilbevölkerung. Ihre Forderungen: ­sofortiger Waffenstillstand in Gaza, Ende der Rüstungs­kooperation der Schweiz mit dem ­israelischen Waffenproduzenten Elbit, Schaffung eines öffentlichen Fonds für die Rekonstruktion der zertrümmerten palästinensischen Universi­täten in Gaza und eines Stipendienfonds für palästinensische Forschende und sofortige Unterbrechung jeglicher Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten. Der Grund: Fast alle israelischen Universitäten arbeiten eng mit der Armee zusammen. Beispiele: Die hebräische Universität in Jerusalem führt ein Programm über Spionagetechnologie. Selbst die Archäologische Fakultät von Tel Aviv ist eng mit der Armee verbunden. Die Armee zerstört Häuser und ganze Dörfer, um den Archäologen den freien Zugang zu den Fundgruben zu sichern.

VERBANDELT

In der Schweiz haben sich die besetzten Universitäten in einer nationalen Be-
wegung organisiert, genannt CEP (Coordination des étudiant(e)s pour la Palestine). Sie rief am 2. Mai zur ersten nationalen Demonstration in Lausanne auf. Hunderte Personen kamen.

Je nach der jeweiligen Reaktion der lokalen Behörden liefen die Besetzungen in differenzierter Form ab. In Genf allerdings verweigerte Rektorin Audrey Leuba jeglichen sinnvollen Dialog. Nach sieben Tagen friedlicher Besetzung rief sie die Polizei, die die Studierenden am 15. Mai dann abführte. Doch bereits am Montagmorgen, dem 20. Mai, kehrten sie zurück. Diesmal fügten sie ihren Forderungen eine neue hinzu: Sie verlangten den Rücktritt der Rektorin. Warum? Investigative Medienschaffende von Westschweizer Medien hatten Erstaunliches zutage gefördert. Der Ehemann der Rektorin, ein schwerreicher Geschäftsmann, ist Verwaltungsrat und Steueranwalt der US-amerikanischen Firma Pratt & Whitney. Diese fabriziert Flugzeugmotoren für die israelische Armee. Für 3 Milliarden US-Dollar rüstet die Firma die letzte Generation der israelischen F-35-Bomber aus. Die Dialogverweigerung der Rektorin erklärt sich höchstwahrscheinlich mit den Waffengeschäften ihres Ehemannes.

PREMIERE

Eine Bewegung wie die CEP hat die Schweiz noch nie gesehen. Studierende haben massiv mitgewirkt an den grossen Anti-Vietnamkrieg-Demos in den 1970er Jahren. Auch im Protest gegen das Apartheid-Regime in Südafrika in den späten 1980er Jahren waren die Studierenden aktiv. Aber solche Universitätsbesetzungen wie jetzt gab es nie zuvor. Dieser geduldige, kluge, mutige Kampf an den Universitäten wird weitergehen. Er ist die Ehre unseres Landes.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

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