Illustration: Ninotchka.ch
Soll ich zu Beginn meiner Route in dieses Büro oder erst am Ende? Im ersten Fall habe ich das Mühsamste hinter mir, im zweiten ist die Chance grösser, dort niemanden anzutreffen. An den anderen Orten treffe ich fast nie Leute an. Büros von Firmen, die Namen haben, aus denen nicht hervorgeht, was sie machen, ich habe auch keine Zeit, mir das zu überlegen, denn die Zeit, die ich habe, um die Räumlichkeiten zu putzen, ist streng vorgegeben. Menschen bedeuten Verzögerung. Verzögerung bedeutet Überzeit. Unbezahlte Überzeit. Darum mag ich die Büros, aus denen die Leute um 18.00 verschwunden sind. Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre in so einem Büro zu arbeiten und um 17.00 heimgehen zu können. Einen guten Lohn zu haben. Aber Träumen hilft nichts. Heute beginne ich mit einem angenehmen Klienten: Reinkommen, die Abwaschmaschine auffüllen, manchmal ist es sogar schon gemacht, das Kurzprogramm einschalten. Anfangen mit den sanitären Anlagen, weil die am meisten Überraschungen bereithalten. Danach der Aufenthaltsraum, dann die Büros im Uhrzeigersinn und der ganze Flur, Maschine ausräumen, Abfall entsorgen, raus und weiter zur nächsten Adresse. Hoffen, dass es keinen Stau gibt, keine Baustelle, die mich aufhält. Auch die Wegzeit ist berechnet. Mit Google Maps, morgens um drei vermutlich, denn sie ist immer zu knapp. Ich brauche das Auto, um meine Ausrüstung zu transportieren. Wenn ich im Stau steckenbleibe oder alle Parkplätze belegt sind, ist das auch mein Problem. Mein Arbeitsplan kennt keine Hindernisse.
Auch darum mag ich diese Firma nicht. Keine Parkplätze. Die Mitarbeitenden sollen nicht mit dem Auto kommen. Ich weiss nicht genau, was die machen, irgendwas Modernes, Social-Media-Auftritte für Unternehmen und so ein Zeugs. Es sind zwei Stockwerke in einem alten Gebäude in einem trendigen Viertel, in dem es fast unmöglich ist zu parkieren. Wenn ich eine Busse kriege, muss ich sie selber bezahlen.
ZERRISSENE HOSEN UND HOODIES
Unten ist ein Grossraumbüro, eine offene Küche, es gibt dort einen Töggelikasten, eine Dartscheibe, ein paar Sofas und Sessel. Das lädt natürlich dazu ein, länger zu verweilen. Gerade an Freitagen gibt es häufig Apéros, ich kümmerte mich um die Spuren davon. Prosecco-Flaschen, Getränkedosen, Einwegschalen für Snacks. All das muss ich auf die verschiedenen Container verteilen, die haben ein strenges Recyclingsystem. Auf das wird hier geachtet. Die Schalen sind kompostierbar, die Becher aus Karton. Es hätte auch genug Gläser, aber die werden selten benutzt. In letzter Zeit sind die Apéros seltener geworden. Zum Glück. Als ich ankomme, ist unten niemand zu sehen.
Im oberen Stock sind die Einzelbüros, dazu ein Aufenthaltsraum mit Küche, etwas edler ausgestattet als unten, ein grosses Sitzungszimmer. Für die beiden Stockwerke sind genau 54 Minuten eingeplant. Das lässt sich nur einhalten, wenn niemand da ist. Zu Beginn haben mich die Leute hier verwirrt. Denn obwohl sie gut verdienen, sehen sie zum Teil total schlampig aus. Zerrissene Hosen, schmuddelige Hoodies und T-Shirts, einer immer barfuss, die Männer unrasiert, die Frauen ungeschminkt. Nur der Chef trägt hin und wieder Hemd und Kittel, aber keine Krawatte. Ich vermute zumindest, dass es der Chef ist, er hat das Eckbüro. Wie alle hier ist er jung, noch keine vierzig. Immerhin ist er freundlich. Ah, Sie sind es … einen Moment, ich gehe kurz raus … danke für Ihre Arbeit. Wahrscheinlich arbeiten die Leute gerne für ihn. Mir ist schon klar, dass er mich in dem Moment, in dem er aus der Tür tritt, um mir die drei Minuten zu geben, die ich für das Büro brauche, schon vergessen hat, aber er schafft es, mir das Gefühl zu geben, zu existieren. Ob er seine Leute gut behandelt, weiss ich nicht, er ist nicht mein Chef, ich bin beim Reinigungsunternehmen des Verlobten einer meiner Cousinen beschäftigt, das wiederum von einem mittelgrossen Unternehmen engagiert wurde, das den Auftrag von der Facility-Management-Abteilung eines grossen Immobilienkonzerns erhalten hat. Kein Wunder, bleibt da am Schluss nicht viel übrig, denn auf jeder Stufe gibt es Leute, von denen ich nicht genau weiss, was sie machen, ausser, dass sie einen Teil von meinem Lohn abzwacken.
SCHLÄFT DER MANN?
Ich fahre mit dem Lift direkt in den oberen Stock. Als ich aussteige, sehe ich gerade noch, wie sich die Tür zum Treppenhaus schliesst.
Ich beginne mit dem Eckbüro, dort brennt zwar noch Licht. Möglich, dass er gerade gegangen ist, das Licht löscht nach einer Weile automatisch. Es würde passen, dass er zu Fuss runtergeht, statt den Lift zu nehmen. Immer mit gutem Vorbild voran. Er ist noch da. Schade.
«Hallo?»
Was ist denn mit dem los?
«Hallo?»
Ist er eingeschlafen? Er ist vornüber auf die Tischplatte gebeugt.
«Ist Ihnen nicht gut?»
Mist, da ist etwas ausgeleert, das ist etwas Nasses auf dem Boden. Ist das Cola?
«Entschuldigung …» Ich berühre ihn sanft an der Schulter und beuge mich zu ihm hinunter. Das ist keine Cola, das ist Blut. Viel Blut. Der Mann ist tot.
Stephan Pörtner (58) lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Zürich. Seine bisher sechs Kriminalromane um Jakob «Köbi» Robert erschienen im Krösus- und im Bilger-Verlag. Als Meister der kurzen Form schreibt Pörtner auch Kolumnen und Fortsetzungsromane.
Wie geht es weiter?
Mit diesem Fortsetzungskrimi begleitet work Sie durch den Sommer. Die
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