Ernes Europa
Europaparlament: EU-Wahltag ist Zahltag

Roland Erne war Chemielaborant und GBI-Jugendsekretär. Seit 2017 ist er Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen am University College Dublin.

Esther Lynch, Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes, atmet auf: Nach den EU-Wahlen gibt es weiterhin eine demokratische Mehrheit im EU-Parlament, um die soziale Unsicherheit zu bekämpfen, die den Rechtsextremismus anheizt. Es gibt keine Entschuldigung für Absprachen mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und anderen radikalen Rechten, wie dies Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch vor den Wahlen nicht ausschloss. Dennoch: Der stetige Aufstieg der Rechtsradikalen muss zu denken geben.

RECHTE MÄRCHEN

Die Obsessionen der Rechten sind weit entfernt von den ­Anliegen europäischer Büezer, die mit ihren Arbeitsbedingungen und Löhnen unzufrieden sind und kaum Mitspracherechte an ihrem Arbeitsplatz haben. Trotzdem verfangen die rechten Erzählungen über «Migranten» und «nationale Souveränität». Daran sind auch angeblich «europafreundliche» Politiker schuld, die nach der Finanzkrise von 2008 ein neues System der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU installierten.

Zu diesem Schluss kommen wir in unserer langjährigen Studie über die Arbeits- und Sozialpolitik der EU von der Finanzkrise bis zur Covid-19-Pandemie, die soeben bei Cambridge University Press erschienen ist und gratis heruntergeladen werden kann.

SCHLECHTE REZEPTE

Seit der Finanzkrise können die EU-Kommission und der EU-Rat jedem EU-Land sozial- und wirtschaftspolitische Rezepte verschreiben, um «exzessive Budgetdefizite» und «exzessive wirtschaftliche Ungleich­gewichte» zu verhindern, die das «ordnungsgemässe» Funktionieren der Wirtschaft gefährden könnten. Von dieser Möglichkeit machten die EU-Exekutiven reichlich Gebrauch, um in verschiedenen Mitgliedstaaten Löhne und Ausgaben für öffentliche Dienste zu senken. Und um Arbeitsbeziehungen und den Service public stärker der Logik des Marktes zu unterwerfen. Diese antisozialen Interventionen führten zu starken Protesten von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auf natio­naler und EU-Ebene; aber auch zum ­Erstarken des Rechtsextremismus, vor allem in Ländern, in denen diese anti­sozialen EU-Rezepte von Mitte-links-­Regierungen umgesetzt wurden.

Für Gewerkschaftschefin Lynch sind die Ergebnisse der EU-Wahlen deshalb ein «Weckruf», der Europa davon abhalten muss, «schlafwandelnd in die Katastrophe zu laufen». Die EU muss dringend ein europäisches «Projekt der Hoffnung» vorantreiben, das allen Beschäftigten «Schutz und Sicherheit» bietet. Die neuen EU-Gesetze für adäquate Mindestlöhne oder das neue EU-Lieferkettengesetz sind erste Schritte in diese Richtung.

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