Argentiniens Präsident greift historische Errungenschaften an
Gewerkschaften erwachen aus dem Dornröschenschlaf

Der argentinische Präsident Javier Milei will maximale Freiheit für Unternehmen und minimale Rechte für ­Arbeitende. Dagegen regt sich Widerstand, der sogar dazu führen könnte, die internen Probleme der ­Gewerkschaften zu lösen.

ZURÜCK AUF DER STRASSE: In Argentinien erstarken die Gewerkschaften und können wieder die Massen mobilisieren, wie hier am 1. Mai. (Foto: Keystone)

Eine volle Strasse, lange Kolonnen von Arbeiterinnen und Arbeitern marschieren am 1. Mai in Buenos Aires an einer improvisierten Bühne vorbei. Über Lautsprecher wiederholt eine Stimme die immergleichen Durchhalteparolen gegen die rechtslibertäre Regierung unter Javier Milei.

Auch der Vertreter der U-Bahn-Angestellten von Buenos Aires, Alberto Pianelli, war an diesem Tag auf der Strasse. Er meint etwas höhnisch: «Früher führte die Zentralgewerkschaft CGT am 1. Mai eine Kirchenmesse durch, und die Trotzkisten veranstalteten Kundgebungen, die auch in einen Saal gepasst hätten.» Doch diese Zeiten seien vorbei. Der Ernst der Lage habe dazu geführt, dass die Gewerkschaften vereint und in Massen demonstrierten – zum ersten Mal seit vielen Jahren.

Seit Dezember 2023 regiert in Argentinien der «Anarchokapitalist» Javier Milei. Er will die seit Jahren andauernde Wirtschaftskrise und Inflation mit einem neoliberalen Schockprogramm bekämpfen: Massive Kürzungen im öffentlichen Sektor, Deregulierung der Wirtschaft und die Bekämpfung der Gewerkschaften sind zentrale Teile des Programms (work berichtete). Ziel ist es, die Reste des Sozialstaats zu schleifen und Argentinien in ein neoliberales Musterland zu verwandeln. Davon besonders betroffen sind die Gewerkschaften, die es seit Jahrzehnten schaffen, für einen Teil der Gesellschaft relativ hohe Lebensstandards zu sichern.

KÄMPFERISCHE BÄHNLER VERDIENEN GUT

Auch die Mitarbeitenden der U-Bahn von ­Buenos Aires gehören zu diesem Sektor. Mit umgerechnet rund 1500 Franken Lohn verdienen sie etwa das Dreifache eines Arztes im öffent­lichen Dienst und arbeiten gleichzeitig nur 36 Stunden die Woche, 6 Stunden am Tag. Ein historischer Erfolg, den die Gewerkschaft auch mit den gesundheitsschädlichen Arbeitsverhältnissen unter der Erde rechtfertigt.

U-Bahn-Gewerkschafter Pianelli erzählt stolz, wie sein Verband Anfang der 2000er Jahre für neue Rechte kämpfte und eine damals jüngere Generation das Gewerkschaftssekretariat übernahm. «Wir haben es geschafft, alle outgesourcten Arbeitsbereiche wieder in das Unternehmen zu integrieren», unterstreicht Pianelli einen der grössten Erfolge.

Der Arbeitsrechtler Jorge García erklärt: «Das argentinische Gewerkschaftsmodell steht im Zentrum der Kritik durch die Unternehmerverbände.» Und im Gegensatz zu den Gewerkschaften stünden die Unternehmerverbände fest hinter dem neoliberalen Kurs der Regierung.

Argentinien ist ein lateinamerikanischer Einzelfall, meint García, ähnlich wie in Deutschland gibt es hier in der Regel nur eine Gewerkschaft pro Unternehmen und nicht mehrere Dutzend oder gar über hundert wie im Nachbarland Chile. «Dies führt zu starken Gewerkschaften, die die Rechte der Arbeitenden erfolgreich verteidigen können», sagt García, der unter ­anderem an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Buenos Aires unterrichtet. Die starke Stellung der argentinischen Gewerkschaften zeigt sich auch in ihrem breiten Leistungskatalog. Für ihre Mitglieder führen sie etwa eigene Rentenkassen, Krankenkassen und sogar ganze Ferienkolonien mit stark vergünstigten Angeboten.

ÜBER DIE HÄLFTE SIND VERARMT

Doch dieses weit ausgebaute Sozialsystem ist längst nicht für alle da. Während manche gewerkschaftlich organisierten Sektoren hohe Löhne erreichen, leben knapp 60 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Vor Mileis Amtsantritt waren «erst» rund 40 Prozent betroffen. Zwar hob die Regierung den Mindestlohn im März um 30 Prozent an, jedoch blieb er hinter der galoppierenden Inflation von über 50 Prozent in den ersten vier Monaten des Jahres 2024. Damit fiel der Mindestlohn von derzeit umgerechnet 200 Franken erstmals unter das Existenzminimum. Rund 40 Prozent der Bevölkerung arbeiten zudem schwarz. Diesem Problem begegne Milei auf seine ganz eigene Art, sagt Professor García: «Die Regierung legalisiert Anstellungen ohne Arbeitsvertrag quasi, indem sie die Strafen dafür abschafft.» Eine entsprechende Arbeitsmarktreform hat das argentinische Abgeordnetenhaus Ende April absegnet.

KORRUPTION SCHWÄCHT GEWERKSCHAFTEN

In Argentiniens Arbeitswelt herrscht Unmut über die Ungleichheit. Neben der fehlenden Repräsentation vieler prekarisierter Arbeiterinnen und Arbeiter führen regelmässige Korruptionsskandale und undurchsichtige Strukturen in den Gewerkschaften zu abnehmendem Vertrauen in die Interessensvertretungen. Pianelli von den U-Bahn-Arbeitern kritisiert: «Es gibt manche Gewerkschaftssekretäre, die zu Unternehmern geworden sind oder sich von den Unternehmen bestechen lassen haben. Sie haben ihre eigentliche Aufgabe, den Kampf für die Arbeiterinnen und Arbeiter, vergessen.» In den Branchen mit besonders vielen solcher Skandale sind auch die Löhne besonders tief.

«Wir sind aus dieser Problematik entstanden», meint Pianelli weiter. Seine Gewerkschaft ist daher schon vor rund 20 Jahren aus dem peronistischen Zentralverband CGT ausgetreten und hat stattdessen den kämpferischeren Gewerkschaftsbund CTA mitaufgebaut, die Central de Trabajadores de la Argentina.

Doch die derzeitige Krise könne auch Teil der Lösung werden, meint Pianelli optimistisch. «Wir erleben derzeit eine Revitalisierung der Gewerkschaftsbasis.» Die Menschen hätten ernsthaft Angst um den Verlust ihrer Lebensqualität und würden sich wieder viel stärker mobilisieren. «Und dort, wo Bewegung herrscht, können alte Strukturen zerbrechen», schliesst Pianelli. Zehn Tage später steht Argentinien still: Generalstreik! Es ist bereits der zweite gegen Milei. Dazu aufgerufen haben alle Gewerkschaften zusammen.

* Der Zürcher Journalist Malte Seiwerth arbeitet seit 2020 als freier Korrespondent aus Santiago de Chile.

«Andere Wahrheit»: Präsident Milei auf dem Pfad der Militär­diktatur

Schon einmal waren die Gewerkschaften politischer Verfolgung ausgesetzt: unter der Militärdiktatur von 1976 bis 1983. Präsident Milei hat sich bereits mehrfach positiv über das Schaffen der Generäle geäussert. Auch zweifelte er ­öffentlich die Anzahl der durch die Diktatur ermordeten 30 000 Personen an.

WIDERLEGT. Zum 41. Jubiläum der Rückkehr zur Demokratie verbreitete die Regierung ein Video, das dazu aufrief, die «andere Wahrheit» zu berücksichtigen. Demnach stand Argentinien 1976 kurz vor einem Bürgerkrieg, den das Militär durch «das Eingreifen» verhindert habe. Eine Erzählung, die bereits von den Putschisten verbreitet wurde, aber von der Geschichtswissenschaft längst widerlegt wurde.

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