Bei den EU-Wahlen haben die rechtsextremen Parteien zugelegt. Schlechte Aussichten für Kaufkraft, Klima, Frauen, Gewerkschaften, Freiheit und Frieden.
ZWEI IM HÖHENFLUG, EINER ABGESTÜRZT: Europas rechte Anführerinnen Marine Le Pen und Giorgia Meloni (v.l) haben gut lachen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wurde vom Stimmvolk abgestraft. (Foto: Keystone)
Marseille ist ein guter Standort, um Europas Wirren zu lesen. Eine Stadt extremer sozialer Unterschiede mit mehr als 90 Nationen. Hier sind alle irgendwie Immigrierte. Und lieben Fussball.
In meinem Quartier, dem 1. Bezirk, hat Links-Grün bei der Wahl ins Europäische Parlament 70 Prozent der Stimmen geholt – die Rechtsextremen nur gerade 9 Prozent. Im ärmsten Quartier Europas, dem 3. Arrondissement von Marseille, haben sogar drei Viertel der Stimmenden links-grün eingelegt. Ganz anders im reichen 8. Bezirk, unten am Strand. Dort gewannen die beiden rechtsextremen Parteien von Marine Le Pen und Eric Zemmour zusammen fast 40 Prozent, weit vor der Partei des Präsidenten Emmanuel Macron.
OHRFEIGE FÜR MACRON
Marseille ist die letzte freie Stadt im braunen Sumpf von Côte d’Azur und Provence. Regiert wird sie vom «Marseiller Frühling», einem Bündnis für sozialen Fortschritt jenseits der traditionellen Parteien. Doch nun sind die Ultrarechten auch über Marseille hereingebrochen – einzig die Linken widerstehen noch.
Die Macronisten haben in ganz Frankreich eine vernichtende Schlappe erlitten. Unterm Strich holte allein das Rassemblement national von Le Pen doppelt so viele Stimmen (knapp 32 Prozent) wie die Präsidentenpartei. Zusammen mit den identitären Rassisten von Zemmour beinahe 40 Prozent. Eine Ohrfeige für Macron. Unerwartet kam sie nicht: Der neoliberale Präsident der Superreichen regiert seit sieben Jahren autoritär am Parlament vorbei gegen die Mehrheit der Bevölkerung.
HOCHRISKANTER POKER
Kaum waren die Ergebnisse bekannt, inszenierte der gekränkte Macron einen hochriskanten Poker: Er löste das Parlament auf und setzte für den 30. Juni und den 7. Juli Neuwahlen an. So will er den Franzosen eine neue Präsidentenmehrheit abzwingen, nach dem Motto: «Ich oder das Chaos.» Nur könnte genau dies zum besten Argument für die Lepenisten werden.
Schreckensstarr schaut man nun in Berlin, Madrid und anderswo auf das hektische Pariser Getümmel: Setzt sich der Trend vom 9. Juni fort, könnten die Neofaschisten im Juli die absolute Mehrheit im französischen Parlament gewinnen. Dann müsste der Präsident sie mit der Regierung beauftragen.
Dass sich Macron nun als letzter Wall gegen den Faschismus gibt, ist bloss ein taktischer Zug. Sein Feind sitzt links, bei den Kräften des sozialen Fortschritts. Der Moment schien ihm günstig, weil die Linken sich im Europawahlkampf zerstritten hatten.
Doch nur einen Tag nach Macrons Poker war klar, dass er sich verzockt hat: Angetrieben von den Gewerkschaften und spontanen Demos im ganzen Land, fanden sich Linke, Grüne, ein Teil der Sozis und die KP über Nacht zu einer neuen «Volksfront 2024».
KREIDE FRESSEN
So ist Frankreich zum zentralen Kampfplatz der existentiellen Krise geworden. Vor der Wahl schlugen die Befürchtungen über die rechtsextreme Flut hoch. Seither waren allerlei Beschwichtigungen zu lesen. Tatsächlich blieben in diesen EU-Wahlen Portugals Rechtextreme (Chega) unter den Erwartungen. In Spanien hielt die Koalition gegen Vox stand. Putins Ukrainekrieg kühlte offenbar etliche nationalistische Mütchen im Osten. Die schwedischen, dänischen und finnischen Fremdenhasser schafften keinen Durchbruch. Geert Wilders legte zwar zu, aber die Linke war stärker. Sogar die deutsche AfD, durch ihre Nazi-Tümelei und diverse Skandale geschwächt, blieb unter den Umfragewerten – aber eine scharf rechts gewandte CDU profitierte.
Giorgia Meloni gewann haushoch, Italiens Linke von der Demokratischen Partei unter Elly Schlein aber sandte mit einem Viertel der Stimmen ein starkes Zeichen.
Ausserdem, so munkelt man, seien sich Meloni und Le Pen spinnefeind, die rechtsradikale Koalition im Europäischen Parlament deshalb unwahrscheinlich. Nur: Beide fressen öffentlich gerne Kreide, aber sie kommen aus demselben Stall. Meloni als direkte Erbin des italienischen Faschismus, Le Pen als Erbin ihres Vaters, eines folternden Kolonialoffiziers und Holocaust-Leugners, der die Partei zusammen mit einem Ex-Waffen-SS gegründet hatte. Wie sich die Ultrarechten am Ende sortieren, steht und fällt mit den Wahlen in Frankreich.
SPENDEN FÜR RECHTSRADIKALE
Schönreden lässt sich das Wahlergebnis vom 9. Juni nicht. In 23 der 27 EU-Länder legten die Rechtsextremen stark zu. Der Kontinent driftet nach rechts, und dieses Driften wird gerade zur Schussfahrt. Ein starkes Indiz sind die Parteispenden: Wie eine Untersuchung («Follow the money») zeigt, fliesst das Geld der Besitzenden und Konzerne immer reichlicher zu den Rechtsradikalen.
Noch vor einem Jahrzehnt wären solche Ergebnisse undenkbar gewesen. Wie sagt meine Bäckerin in Marseille ungefragt und provozierend: «Wir wählen Marine!»
NUR GEFÜHLE
Nur sind nicht plötzlich 40 Prozent der Französinnen zum Faschismus übergelaufen, bei aller Propagandamacht des rechtsextremen Medien-Milliardärs Vincent Bolloré. Lokale Besonderheiten erklären auch nichts – der Trend läuft europaweit. Dabei bietet keine rechtsextreme Partei ein konsistentes Programm an. Bloss Gefühle. Aber diese politischen Affekte haben reale Gründe. Jahrzehnte neoliberaler Zumutungen, egal ob durch bürgerliche oder sozialdemokratische Politiker, haben das Geflecht von Sicherheiten und gesellschaftlichem Zusammenhang zerrissen. Ganz handfest etwa durch die Demontage des Service public, durch die steigenden Chancenungleichheiten (Schule, Ausbildung usw.), die wachsende soziale Unsicherheit (etwa das Schwinden des Arbeitslosengeldes), territoriale Ausgrenzungen (unerschwingliche Mieten…), die obszöne Bereicherung weniger. Die extreme Rechte nährt sich an Benachteiligungen und den Ängsten vor dem sozialen Abstieg.
Was eigentlich eine Klassenfrage ist, deutet sie rassistisch um (dabei ist die Immigration für die meisten Wählenden gar kein prioritäres Thema). Soll man da auch noch auf sein Auto oder sein Steak verzichten, weil das Klima brennt? Wer nichts zu verlieren hat, wie die Menschen im 3. Marseiller Bezirk, wählt nicht Marine Le Pen.