Sie wollen den Mindestlohn um 1600 Prozent erhöhen. Nur mit einer Lohnexplosion, sagen die kampferprobten nigerianischen Gewerkschaften, kann das Land noch gerettet werden.
AUF DER STRASSE: Mit einem 48-stündigen Generalstreik zwangen Nigerias Gewerkschaften die Regierung an den Verhandlungstisch. (Foto: Reuters)
In der frenetischen 16-Millionen-Metropole Lagos gingen die Lichter aus. Eine klare Ansage, Lagos ist das wirtschaftliche Herz des afrikanischen Riesen Nigeria (230 Millionen Menschen), Hauptstadt der Afro-Beats (von Fela Kuti hier erfunden) und Zentrum von Nollywood, der zweitgrössten Filmindustrie der Welt (nach Bollywood). Die Gewerkschaften haben Anfang Juni den Stromschalter umgelegt, die öffentliche Verwaltung geschlossen und die Flughäfen bis in die Bundeshauptstadt Abuja lahmgelegt. Darauf brachen Gesundheitsversorgung und grosse Teile der Ökonomie zusammen. Nigeria stand still.
Anlass für die drastischen Kampfmassnahmen der grossen Gewerkschaftsbünde Nigeria Labour Congress (NLC) und Trade Union Congress (TUC) war die monatelange Weigerung der Regierung, über die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auch nur zu sprechen. Der liegt derzeit bei 30 000 Naira, was ungefähr 18 Franken entspricht. NLC und TUC fordern 16mal mehr, etwa 290 Franken. Nach 48 Stunden Generalstreik bequemte sich die Regierung an den Verhandlungstisch – und bot 60 000 Naira an, umgerechnet 36 Franken. Viel zu wenig, aber die Gewerkschaften setzten den Streik erst einmal aus, «als Zeichen der Gesprächsbereitschaft», wie NLC-Sprecher Benson Upah sagt. Doch, so warnt er, «wir bleiben mobilisiert».
«NAIRA-DUSCHEN» UND HUNGER
Der geforderte Sprung von 18 auf 290 Franken ergibt Sinn. Ein Kilo Mehl kostet 1000 Naira, das Grundnahrungsmittel Reis dreimal so viel. «Wer Arbeit hat, kann von seinem Lohn nicht essen», sagt Upah. Das Land zwischen Sahel und Nigerdelta, ein eigener Kontinent, verfügt reichlich über sämtliche strategischen Bodenschätze des modernen Kapitalismus, eine potentiell produktive Landwirtschaft und viele bestens ausgebildete Köpfe (wir meinen nicht die gefallene britische Prinzessin Meghan Markle, die hier ihre Wurzeln hat). Ein immenses Potential.
Doch Nigeria wird von einer apokalyptischen sozialen und wirtschaftlichen Krise geschüttelt. 60 Prozent leben unter der Armutsgrenze, während eine dünne Oberschicht von Superreichen in den Nachtclubs von Lagos die Scheine aufs Publikum regnen lässt, als «Naira-Duschen» sehr beliebt.
Die Inflation auf Nahrungsmitteln liegt über 40 Prozent. Einzelne Teilstaaten der Republik haben jetzt offiziell die Hungersnot ausgerufen. Strom- und Spritpreise sind um 250 Prozent gestiegen, seit die Regierung die Preissubventionen auf Geheiss des Internationalen Währungsfonds (IWF) gestrichen hat. Benzin ist oft rar, obschon Nigeria einer der grossen Ölproduzenten der Welt ist. Doch Ölmultis wie Shell, die das Öl ausbeuten, haben Nigeria daran gehindert, eigene Raffinerien aufzubauen – Benzin muss also teuer importiert werden, gegen Dollars. Übrigens schleichen sich Shell & Co. gerade davon und überlassen Hunderttausende von Menschen im Nigerdelta den Krankheiten und dem Elend einer der «am schlimmsten ölverseuchten Regionen der Welt» (Uno).
DER FLUCH DES SCHWARZEN GOLDES
Die Misere hat bekannte Ursachen. Postkoloniale Ausbeutung durch westliche Konzerne. 25 Jahre unter einer diebischen Militärjunta (bis 1999). Unsicherheit und Repression. Die Knüppel und Rezepte des IWF. Korruption usw. Und der Fluch des schwarzen Goldes: 80 Prozent der Deviseneinnahmen kommen aus dem Öl, doch weniger als ein Viertel des BIP. Trotz den multiplen Talenten einer kreativen Nation hat Nigeria nie eine tragende Ökonomie aufbauen können. Heute arbeiten bis zu 80 Prozent der Aktiven, so schätzt die Friedrich-Ebert-Stiftung, in der informellen, grauen Ökonomie.
Präsident Bola Tinubu versucht es derweil mit gescheiterten neoliberalen Rezepten, wie der brutalen Abwertung der Landeswährung und Privatisierungen. «Danach wird es besser», verspricht er. «Wenn die Nigerianerinnen und Nigerianer erst einmal verhungert sind», antworten die Gewerkschaften. TUC und NLC haben eine lange Kampferfahrung, die bis in die britische Kolonialzeit zurückreicht. Sie gelten als die stärkste Gewerkschaftsbewegung Afrikas und sind stark politisch orientiert.
Ihr Generalstreik ist kein simpler Lohnstreik. Die Krise geht zu tief: «Rettet das Land vor dem sicheren Tod», schrieben sie dieser Tage an die Regierung. Ihr Punkt: Nur eine wachsende Inlandnachfrage kann Nigeria noch retten. Also massive Lohnerhöhungen.