Der Kanton Wallis hat Historikerin Elisabeth Joris für ihr Lebenswerk geehrt. work gratuliert ganz herzlich! Mit viel Vergnügen erinnern wir uns an ein Interview aus dem Jahr 2006, in dem sie über Frauen und Frauenbilder in und um Tunnel spricht, und über die sehr erotische Sprache im Tunnelbau. Erstmals publiziert work das legendäre Interview nun online.
GEEHRT: Historikerin Elisabeth Joris hat den Kulturpreis des Kantons Wallis erhalten. (Foto: zvg)
Elisabeth Joris ist Pionierin der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Der Kanton Wallis hat ihr jetzt den Kulturpreis 2024 übergeben. Joris hat zahlreiche Bücher zur Geschichte der Frauen und der Migration geschrieben. Darunter das 2006 erschienene Buch «Tiefenbohrungen», in dem sie die Rolle der Frauen im Tunnelbau untersuchte. work hat sie damals gefragt, wieso die Tunnelbohrmaschinen eigentlich Frauennamen wie «Gabi», «Sissy» und «Heidi» haben, und ob wir ein Volk von Tunnelerotikern seien.
Das Interview zeugt von Fachwissen und Humor. Aus aktuellem Anlass publiziert work das Gespräch erstmals online:
work: Elisabeth Joris, warum gibt es eigentlich im Tunnel immer noch fast keine Frauen?
Elisabeth Joris: Das hängt mit den Berufsfeldern zusammen. Alle Berufe im technischen Bereich – wie etwa Sprengmeister und andere – sind immer noch sehr männerlastig. Dazu kommt, dass es im Tunnelbau eine Tradition der Männergesellschaft gibt. Und schliesslich ist es eine mobile Gesellschaft. Das heisst, man zieht von Tunnel zu Tunnel. Das ist auch nicht aller Frauen Ding.
Ein paar Frauen gibt es aber in den Neat-Tunnels?
Es gibt einige wenige Ingenieurinnen, erstaunlicherweise vor allem auf der Tessiner Seite. Unter den sogenannten Bärenführern, die Besucherinnen und Besucher über die Baustelle führen, gibt es ein paar wenige Frauen auf der Berner Seite. Damit sind wir aber eigentlich schon bei Frauen, die wir im Buch Grenzgängerinnen nennen. Frauen, die im Bereich des Dorfs verankert sind und trotzdem einen Bezug zum Bereich der Männer haben. Die Mehrheit der Frauen ist aber in spezifisch weiblichen Bereichen tätig, im administrativen Bereich, Büro, Informationszentren, Kommunikation. Dazu kommen die reproduktiven Bereiche rund um den Tunnel. Und da sind Frauen seit 125 Jahren dominierend: putzend, kochend und und und. Der Unterschied zu früher ist: Heute leben viel weniger Frauen auf den Tunnelbaustellen, weil die Mobilität der Arbeitskräfte gestiegen ist, heute können sie zwischendurch regelmässig nach Hause. Und seit der Zwischenkriegszeit kann man mit der Fremdengesetzgebung nicht mehr einfach die Familie mitnehmen. So waren die Barackensiedlungen von der Zwischenkriegszeit bis in die 70er, 80er Jahre eine Männerdomäne, und die Containersiedlungen heute sind es auch.
Wie sind Sie überhaupt zum Projekt Tunnelbau und Frauen gekommen?
Ich selber wäre nie auf das Thema gekommen. Ich wurde angefragt, und zwar ging die Initiative von der Pro Helvetia aus, die das wissenschaftliche Projekt in Kooperation mit dem interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Uni Bern in die Wege geleitet hat. Man wollte im Tunnelbau einmal andere Akzente setzen, damit nicht nur das Loch, die Produktion des Lochs und die heilige Barbara gesehen werden, sondern dass man auch einmal schaut, in welchen Zusammenhängen das stattfindet. Und sobald man die Zusammenhänge betrachtet, sind Frauen und Männer involviert. Das war also ein bewusster Zugang, damit die Geschichte nicht so fortgeschrieben wird, wie sie immer geschrieben worden ist, seit 125 Jahren. Es wurden ja die Urner Zeitungen beim Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels analysiert. Und da ging es um Politik und Finanzen. Wenn man heute die Neat-Berichterstattung anschaut, geht es um Tunnel, Maschinen, Sprengen und um Unternehmer, Bauleiter, Finanzen und Politiker, sonst um nichts.
Welches sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Wir wollten nicht den Tunnelblick haben, der immer linear ist, sondern haben einen vernetzten Ansatz gesucht. Und in diesem Zusammenhang wollten wir auch die Nichtanwesenden einbeziehen, zum Beispiel die, die in Italien geblieben sind, für die Geld überwiesen wurde. Oder auch die jenigen, die nachgezogen sind. Für mich war wirklich das Erhellendste, zu sehen, dass es Frauen gab, die eigenständig mit den Tunnels wie «Marketenderinnen» (fliegende Händlerinnen, die Red.) mitgezogen sind, und dass es Teil der Ökonomie des Tunnelbausystems war: die Männer im Tunnel, die Frauen ausserhalb, wo man als funktionierendes System von einem Ort zum anderen gegangen ist, die Zelte abgebaut und woanders wieder aufgebaut hat.
Sie schreiben, dass die Tunnelbohrmaschinen nach der Urner FDP- Nationalrätin Gabi Huber benannt wurden. Die anderen heissen «Sissy» und «Heidi». Sind wir ein Volk von Tunnelerotikern?
Das ist nicht spezifisch schweizerisch. Aber wenn man das Vokabular anschaut, ist es tatsächlich eine sehr erotisch aufgeladene Sprache. Da gibt es die Tunnelbrust. Sicher, das ist eine konkave Rundung. Aber dass sie ausgerechnet Tunnelbrust heisst, ist sicher kein Zufall. Es geht im Tunnelbau immer um den Vortrieb, das Neue, das Jungfräuliche quasi, alles ist sehr erotisch aufgeladen, und letztlich geht es immer auch um Penetration. Und das alles in einer reinen Männerwelt. Gerade darum würde auch eine Frau im Betrieb diese Konnotationen in Trouble bringen.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Schutzpatronin, die heilige Barbara?
Sie wird jedes Jahr gefeiert, und zwar unabhängig davon, ob die Arbeiter Katholiken sind oder nicht. Auch wenn er eigentlich ein katholischer Feiertag ist, der 4. Dezember ist überall der Tag der Bergleute und damit der Tunneltag. An diesem Tag spielen auch die Tunnelpatinnen eine wichtige Rolle. Im Prinzip ist auch das Amt der Tunnelpatin ein typisch weibliches Amt. Sie ist quasi das Analoge zur Barbara, für deren Pflege sie verantwortlich ist. Und sie spielt die Rolle der Schützenden, Mütterlichen, die vermittelnd ihre Hand über die Arbeiter hält. Im Kanton Bern hat es eine interessante Konstellation gegeben. Dort wurde mit der damaligen Regierungsrätin Dori Schär quasi die Auftraggeberin zur Tunnelpatin gemacht. Im Wallis war es die Ehefrau des zuständigen Staatsrats Wilhelm Schnyder.
Elisabeth Joris: «Im Tunnelbau ist alles sehr erotisch aufgeladen.» (Foto: zvg)
Die Frage der Prostitution kommt im Buch nur aus historischer Sicht vor. War das ein bewusster Entscheid
Das Thema wird zweimal aktuell angetönt, einmal im Beitrag zu Pollegio, wo niemand Auskunft geben will. Das habe ich interessant gefunden. An einem anderen Ort wird auf die Zunahme der Salons um Spiez Bezug genommen. Wir haben uns bewusst nicht so sehr damit beschäftigt. Als ich das Projekt kennenlernte, fand ich als erstes das Thema Frauen und Tunnel pornographisch, und als zweites habe ich natürlich an Prostitution gedacht. Man denkt immer noch sofort: Männergesellschaft plus Prostitution. Und damit blendet man vieles aus. Die Forscherinnen, die den Beitrag über Prostitution beim Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels verfassten, haben bewusst nicht den voyeuristischen, skandalisierenden Blick gewählt, sondern den ökonomischen: Was wird da für Profit generiert. Wahrscheinlich stimmt es, dass Salons im Oberwallis zugenommen haben. Aber sie haben auch im Aargau zugenommen, ohne Neat-Tunnel. Ich denke, da kommt ein grundsätzlicher Mentalitäts- und Strukturwandel zum Tragen. Wir leben in einer mobilen Gesellschaft. Es etabliert sich nicht wie vor 125 Jahren in Göschenen ein Bordell, sondern man geht vielleicht nach Bern oder Lugano.
Wo müsste man weiterforschen?
Es brauchte eine Geschichte der Grossbaustellen in der Schweiz. Es gibt keine Geschichte der Grossbaustellen als Lebensgemeinschaften und in ihren wechselseitigen Bezugssystemen. Die Forschung hat die Migration gerade jetzt erst in den Blickwinkel genommen. Man hat sie lange nicht als integrierten Teil der Schweizer Geschichte wahrgenommen, sondern sie tauchte in einzelnen Perioden als spezifisches Problem auf. Dabei müsste man die Vielzahl der Grossbaustellen im 20. Jahrhundert unbedingt in diesem Sinne anschauen. Auch da wird vor allem auf die Bauwerke geschaut, auf Staumauern und Tunnels. Aber nicht darauf, was da auch für soziale und geschlechterspezifische Dynamiken drin waren.
Das PDF der work-Ausgabe aus dem Jahr 2006 kann hier heruntergeladen werden: