Jean Ziegler ‒ la suisse existe
Das grösste Schweizer Tabu-Thema 

Jean Ziegler

Wenn es im öffentlichen Diskurs ein sorgfältig gehütetes Tabuthema gibt, dann ist das die Armut in der Schweiz. Die Nichtregierungsorganisation Caritas verdient Dankbarkeit und Bewunderung. Jahr für Jahr gibt sie jenen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ein Gesicht, deren Existenz in der reichen Schweiz von der Mehrzahl der Bevölkerung ignoriert wird.

 700 000 Menschen, Schweizerinnen und Schweizer, Migrantinnen und Migranten, sind hierzulande gezwungen, unter dem Existenzminimum zu leben. Sie sind abhängig von sozialer Hilfe. Sie sind – wie der volkstümliche Ausdruck lautet – «armengenössig».

UNGENÜGEND

Die allermeisten unter ihnen arbeiten, so gut sie können. Der Lohn aber ist völlig ungenügend. Die Mehrzahl der «Armengenössigen» sind Frauen, genauer: alleinerziehende Mütter. Die Zahl der Sozialhilfeabhängigen steigt von Jahr zu Jahr. Dasselbe gilt für die Vermögensverhältnisse.

Mit der Einkommensungleichheit steigt auch die Vermögensungleichheit. Ein Beispiel: 2003 besassen 3 Prozent der Steuerzahlenden die Hälfte der gesamten Vermögen. 2019 waren es nur noch 1,6 Prozent. Das heisst: In der Schweiz besitzen heute 1,6 Prozent der Menschen gleich viel wie die anderen 98,4 Prozent zusammen.

Angesichts der rasanten Zunahme der Armut rechnet die Caritas mit einer Zahl von 1 340 000 «Armutsgefährdeten». Eine vierköpfige armutsbetroffene Familie hat monatlich 4010 Franken zur Verfügung.

EINDRÜCKLICH

Der Fotograf und Autor Klaus Petrus gibt den Armutsbetroffenen in seinem eindrücklichen Buch «Am Rand» ein Gesicht. Er erzählt die Geschichten von Menschen am Rand der Gesellschaft (Merian-Verlag). Zum Beispiel von jener Rentnerin, die betteln muss und versucht, dabei unsichtbar zu bleiben. In der Schweiz sind über 300 000 Menschen im Pensionsalter von Armut betroffen. Für Einzelpersonen gilt als Armutsgrenze ein monatliches Einkommen von maximal 2284 Franken. Jede siebte Person über 65 Jahre unterschreitet diese Grenze. Über 17,7 Prozent der Frauen und 9,9 Prozent der über 65-jährigen Männer unterschreiten die Armutsgrenze.

Die Situation ist absurd. Nehmen wir das Beispiel von Genf, dem nach Zürich reichsten Kanton mit 15 Milliardären und vielen Millionären. Hier besitzen 2 Prozent der Bevölkerung 63 Prozent der Vermögenswerte. Gleichzeitig sind knapp über 70 000 Einwohnerinnen und Einwohner «armengenössig». Das heisst, sie überleben nur dank Sozialleistungen: Zusatzleistungen zur AHV, Wohnsubventionen, Sozialhilfe u. a. 140 000 Einwohner erhalten Subventionen für die Zahlung ihrer Krankenkassenprämien. In keinem Kanton sind die sozialen Ungleichheiten so schlimm wie in Genf.

HIMMELSCHREIEND

Wer nur dank Sozialhilfe überlebt, muss auf vieles verzichten: In Genf gehen 18 Prozent der Bevölkerung nicht zum Zahnarzt. Ganz zu schweigen von Ferien, Restaurantbesuchen, kulturellen Aktivitäten etc. 

Gemäss Weltbankstatistik ist die Schweiz, gemessen am Kopf der Bevölkerung, das zweitreichste Land der Welt hinter Kuwait. Dass solche Armut bei uns herrscht, ist eine himmelschreiende Schande.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden ­Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

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