work Sommerkrimi – Teil 4
Die Woche nach dem Mord

Illustration: Ninotchka.ch

Am Montagabend nach der Tat nehme ich es überall ein bisschen genauer, damit ich so spät wie möglich in der besagten Firma ankomme. Heute will ich wirklich niemandem begegnen. Es funktioniert. Alle sind schon weg. Sieht ganz so aus, als hätte es unten eine Ansprache oder so etwas gegeben. Einer der langen Tische ist mit Krumen und Kaffeeflecken übersät, die Spüle ist voller Gläser und Tassen, die Maschine voll. Ich werde sie zweimal laufen lassen müssen. Zweimal warten. Für einmal ist es mir egal. 

Haben sie nach dem Mittag informiert und den Leuten den Nachmittag freigegeben oder erst kurz vor Feierabend, um keine Arbeitszeit zu verlieren? Ich frage mich, ob die Leute schockiert waren, traurig, empört. Sie müssen davon ausgehen, dass sie mit einer Mörderin oder einem Mörder zusammenarbeiten. Oder ist jemand nicht zur Arbeit erschienen, abgehauen oder hat gestanden? Ich vermute, Brandstetter hätte mich informiert. Was sie natürlich nicht muss. In den leeren Büroräumen ist nichts zu spüren. Keine Trauer, Angst oder Freude über den Tod des Mannes. Sein Büro kann ich für einmal auslassen. Die nächsten zwei Tage warte ich auf einen Anruf von der Polizei. Die Dose steht in meiner kleinen Wohnung auf dem Fensterbrett. Es meldet sich niemand.

Das Büro 305

Am Mittwochabend sind im unteren Stock ein paar Leute, für einmal reden sie miteinander. Als ich hereinkomme, verstummen sie, die Gruppe löst sich auf, man verabschiedet sich. Ich traue mich nicht, zu fragen, ob es etwas Neues gibt. Das Recycling ist ein einziges Durcheinander, was mich eine Weile beschäftigt. Im Andenken an den Ermordeten nehme ich es genau. Im oberen Stock brennt auch noch Licht, es ist das Büro 305, zwei Türen hinter dem des Toten. Am Schreibtisch sitzt ein junger Mann. Er trägt einen Schnauz und kurze Haare, eine Frisur, die für mich altmodisch wirkt, so sah der Abwart in dem ersten Schulhaus aus, das ich besucht habe, als ich in die Schweiz kam. Er machte uns Ausländerkinder für allen Dreck verantwortlich. Als hafte uns der besonders hartnäckig an. Der junge Mann ist einer von denen, die mich nicht beachten. Die nicht mal aufschauen, wenn ich hereinkomme. Ich putze um ihn herum, er nimmt mich überhaupt nicht wahr. Er telefoniert sogar, während ich im Raum bin. Wahrscheinlich denkt er, ich verstehe kein Deutsch. Ich bin seit meinem neunten Lebensjahr in der Schweiz. Er sagt nicht viel, abgesehen von ein paar englischen Wörtern wie «strange» und «anyway» und schweizerdeutschen wie «voll» und «krass». Während er mit dem Headset telefoniert, macht er etwas am Handy. Er ist vollkommen absorbiert.

Der nervöse Mann

Am Donnerstag sind gleich zwei Leute da. Die Frau im Büro 312 treffe ich, wie den jungen Mann mit dem Schnauz, öfter mal an. Sie ist einer der Gründe, warum ich so spät wie möglich komme. Wie immer verscheucht sie mich mit einer strengen Geste. «Jetzt nicht», zischt sie, ohne vom Bildschirm aufzusehen. Nachtarbeit, Überstunden, wichtige Mission. Weil es draussen schon dunkel ist und die Rollläden abends automatisch heruntergefahren werden, spiegelt sich der linke ihrer beiden Bildschirme im Fensterglas. Ich erkenne eine bekannte Shoppingseite für Kleider. Wahrscheinlich hat sie sonst keine Zeit zum Shoppen, weil sie so viel arbeitet. Ich sehe mir diese Seite auch manchmal an, aber ich kann mir nur selten neue Kleider leisten und gehe lieber in Läden, wo ich die Sachen anprobieren kann. Wie immer seit dem Mord kontrolliere ich auch die Kühlschränke. Keine Energy-Drinks, weder light noch konventionell. 

Im Büro 309 – nach welchem System die Büros hier numeriert sind, leuchtet mir nicht wirklich ein – sitzt der älteste Mitarbeiter, den ich hier angetroffen habe. Er ist vielleicht Mitte vierzig. Er gibt sich zwar Mühe, in lockerer Kleidung herumzulaufen, aber irgendwie passt sie nicht zu ihm. So wie es Leute gibt, die im Anzug verkleidet aussehen, wirkt er so in Jeans und T-Shirt. Er zuckt jedes Mal zusammen, wenn ich hereinkomme, klappt sofort den Computer zu, murmelt etwas wie «Schon so spät, Entschuldigung» und beeilt sich, seine Sachen zusammenzupacken. Mir scheint, er ist noch bleicher und nervöser als üblich. Es kommt mir immer vor, als hätte ich ihn bei etwas erwischt. Immerhin wünscht er mir einen schönen Abend.

Der Anruf ins Leere

Am Freitagmorgen rufe ich noch einmal Brandstetter an. Sie ist nicht da. Stettlers, Mettlers oder Stadlers gibt es viele bei der Kriminalpolizei. Für einmal mache ich die Tour mit Absicht in umgekehrter Reihenfolge. So erreiche ich «diese Firma» kurz nach 18.00. Im unteren Stock hocken noch Leute, kein Apéro, eher so ein Hängenbleiben. Das Bedürfnis, miteinander zu reden. Ich lasse sie und gehe in den oberen Stock. Auch hier herrscht noch Betrieb. Vier Personen sind in der Küche versammelt, als ich sie betrete. Eine davon trinkt aus einer hellblauen Dose.

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