Sophie Binet, Frankreichs führende Gewerkschafterin, spricht Klartext
«Dieses Land steht auf der Kippe!» 

Frankreichs Linke hat, angetrieben von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die Wahlen gewonnen und die Neofaschisten geschlagen. Doch Präsident Macron will die Linke nicht regieren lassen. Höchste Zeit, findet CGT-Generalsekretärin Binet, den Druck der Gesellschaft auf die Politik einen Zahn hochzufahren.

KÄMPFERISCH. Sophie Binet kämpft gegen die Neofaschisten im Land. (Foto: keystone)

«Oh ja», sagt Sophie Binet lächelnd, in ihrem Büro hätte sie gerne einen Generalstreik-Knopf, «auf den ich nur zu drücken bräuchte. Doch das funktioniert nicht so.» Binet leitet den grossen französischen Gewerkschafts-Verbund CGT. Einige CGT-Gewerkschaften, die Eisenbahner zuvorderst, drängen dieser Tage auf eine harte Konfrontation. Und Binet weiss: «Ich würde einen solchen Knopf wohl häufig benutzen.» 

Zum Beispiel heute, am 18. Juli, wenn in Paris das frisch gewählte Parlament zusammentritt. Vor elf Tagen hat die links-grüne Neue Volksfront (NFP) überraschend die Wahlen gewonnen, wenn auch ohne absolute Mehrheit. Doch Präsident Emmanuel Macron weigert sich, das Ergebnis zu akzeptieren und die Volksfront mit der Bildung einer Regierung zu betrauen: «Niemand hat gewonnen», schrieb er in einem Brief an die Nation. Eine hochdramatische Lage, findet Sophie Binet «Macron giesst Benzin ins Feuer. Stiehlt er uns den Wahlsieg, ist das Chaos programmiert. Dieses Land steht auf der Kippe.» Demokratie war für Macron immer ein lästiges Hindernis auf dem Weg seiner neoliberalen «Revolution». Er hätte lieber ein anderes, unterwürfigeres Volk. 

Der unbeliebte Präsident

Dass die Macronisten zum zweiten Mal in vier Wochen schwer geschlagen wurden, musste Macron erwarten. Der Präsident ist verhasst und er hat seit 2022 keine Mehrheit mehr für seine Politik. Geärgert hat ihn viel mehr, dass sein Plan nicht funktionierte: Wie sämtliche Meinungsforscher, Berater und der Inlandgeheimdienst RG hatte der Macron fest mit einem Erdrutsch-Sieg der Rechtsextremen vom Rassemblement National (RN) gerechnet. Diese «Klärung» (Macron) war das Ziel der grundlos angesetzten Blitz-Neuwahlen: Mit einer neofaschistischen Regierung an seiner Seite hätte der Präsident die wachsenden Widerstände gegen den Sozialabbau, die Zerstörung des Service public, die Blockade der Klimapolitik und die extreme Bereicherung des Kapitals leichter brechen können. 

SCHLECHTER VERLIERER. Macron will das Wahlergebnis nicht wahrhaben. (Foto: keystone)

Doch wieder einmal hat er die Rechnung ohne die Bevölkerung gemacht. Die Gewerkschaften und ein breites Bündnis sozialer Bewegungen haben die rechtsextreme Machtergreifung verhindert. Im Rund-um-die-Uhr-Einsatz mobilisierten  Tausende von Frauen und Männern, die in keiner Partei eingeschrieben sind, gegen Rassimus, Hass, Ungleichheit – und gegen Macron. Die verfeindeten Linken und «Sozialisten» (in Realität eine Mischung aus Sozialdemokraten und National-Liberalen) zwangen sie zum Bündnis gegen rechts – und zu einem fortschrittlichen Programm für ein besseres Leben der grossen Mehrheit. 

Das Verdikt ist klar, bilanziert Binet hier stellvertretend für viele andere: «Die Menschen wollen einen doppelten Bruch, zum einen mit Macrons Wirtschafts- und Sozialpolitik und zum anderen mit seinem Abriss an der Demokratie.»    

Jetzt wehrt sich die Bevölkerung

In der Wucht dieses Aufstandes der Gesellschaft sammeln sich die Erfahrungen vieler Bewegungen der letzten Jahre, etwa gegen die Erhöhung des Rentenalters oder für eine vernünftige Klimapolitik. Macron hat sie allesamt unterdrückt und kriminalisiert. Jetzt schlagen sie mit Macht zurück. Die Bedürfnisse der Bevölkerung lassen sich nicht auf Dauer schlechtreden oder ignorieren. Für die Gewerkschaften findet gerade ein Epochenbruch statt. Binet:

Mit der faschistischen Gefahr vor Augen haben wir in diesen Wochen Unerhörtes vollbracht, wie der Rest der Gesellschaft. Es ist sehr sehr lange her, dass sich die Gewerkschaften so offen und entschieden politisch eingemischt haben.

Gewerkschaften, nicht nur die französischen, sind gut darin, Kröten zu fressen. Sie haben das oft geübt. Die Arbeitenden sitzen (stehen!) meist am kürzeren Hebel. Unser System heisst Kapitalismus, weil das Kapital regiert, allein regiert, und es sorgt dafür, dass die Politikerinnen und Politiker, egal welcher Couleur, das nie vergessen. Im verschärften Kapitalismus der letzten Jahrzehnte hat dieses Kräfteverhältnis grosse Teile der Linken verschluckt, etwa der französischen «Sozialisten», die sich unter Präsident François Hollande (2012-2017) neoliberal und autoritär gewendet haben. 

KLARE FORDERUNGEN. Gewerkschaftsbünde wollen eine Veränderung in der Regierung. (Foto: keystone)

Genug, sagen heute Frankreichs sieben Gewerkschaftsbünde. In einem gemeinsamen Communiqué (nur die Kadergewerkschaft stellt sich taub und stumm) fordern sie an diesem 18. Juli vor dem Parlament die sofortige Einsetzung einer Regierung der Neuen Volksfront. Doch zwischen den Zeilen steht noch mehr, wie eine Gewerkschafterin von SUD Education (Service public) deutlich macht:

Gibt es nicht sofort Verbesserungen für die Menschen bei Lohn und sozialer Sicherheit, weil Macrons Rechtskoalition die Wahlen konfisziert, oder weil die Volksfront auseinanderbricht, kommt es zum faschistischen Dammbruch.

Darum, so Sophie Binet, «darf die Mobilisierung der letzten Wochen nicht nachlassen. Es brennt und es kann sehr schnell gehen.» Übersetzung: Wir erwarten viel von der Volksfront, aber wir wissen, dass es in dieser kritischen Situation vor allem auf uns ankommt. 

Gewerkschaften planen grosse Mobilisierung

Die Gewerkschaften reden aus Erfahrung. Mit dem Aufstieg des RN explodieren die rassistischen, frauen- und schwulenfeindlichen Zwischenfälle am Werkbank und in den Büros, bis hin zu physischer Gewalt. Das nütze allein dem Kapital, sagt Binet:

Wenn sich die Arbeitenden über Hautfarbe oder Religion streiten, freut sich der Patron. Um unser Kräfteverhältnis ist dann geschehen. Es baut auf die gemeinsame Arbeit und die Zusammenarbeit beim Kampf um sozialen Fortschritt.

Deshalb haben die sieben Gewerkschaftsbünde jetzt eine grosse Kampagne gegen Rassismus und Antisemitismus aufgelegt. Denn: «Wir sind der wichtigste Schutzwall gegen den Faschismus.» In Zeiten sozialen Rückschritts prosperieren die Rechtsextremen, weiss die CGT-Generalsekretärin, gewinnen hingegen die Gewerkschaften, verlieren die Rassisten. 

Nur konsequent also, wenn CGT und SUD die anderen Gewerkschaften nun zu einer grossen sozialen Mobilisierung «spätestens nach den Sommerferien» bewegen wollen. Die sei zwingend, sagt Sophie Binet und fügt eine kleine Fussnote an: «Egal, wer dann regiert.»

Sophie Binet im Interview mit der Internet-Zeitung Mediapart:

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