Parlamentswahlen in Frankreich
Fällt Frankreich in den braunen Sumpf?

Faschismus in Frankreich. In der Heimat der Menschenrechte, der Aufklärung, der grossen Revolution von 1789, der brillanten Denker und des Mini-Jupe. Wie kann das sein? 

GESICHT DER RECHTSEXTREMEN: Marine Le Pen und ihr Rassemblement national haben nach dem ersten Wahlgang die Nase vorne. (Foto: Keystone)

Es sollte der Sommer seines Ruhmes werden. Ein Feuerwerk zum Glanze von Emmanuel «Jupiter» Macron: Am 14. Juli die Militärparade der «Grande Nation» auf den Champs-Elysées. Zwölf Tage später die weltweit ausgestrahlte Eröffnung der Olympiade von Paris. Im Herbst dann die finale Seligsprechung durch die Aufrichte der 2019 abgebrannten, wiederaufgebauten Kathedrale Notre-Dame de Paris. Zur Segnung möchte der Präsident sogar den 87jährigen Papst herkarren. 

Nun könnte es aber leicht geschehen, dass er die Bühne mit einem Jüngling ohne Diplome und Titel aus einer Pariser Vorstadt teilen muss: Jordan Bardella, 28, gut dressierter «Präsident» des neofaschistischen Rassemblement national (RN). Seine Rechtsextremen haben gerade den ersten Gang der Parlamentswahlen gewonnen (33 Prozent), vor der links-grünen Volksfront (28 Prozent) und Längen vor der Koalition des Präsidenten (20 Prozent). 

GUT DRESSIERT: Jordan Bardella könnte Frankreichs Regierungschef werden. (Foto: Keystone)

Schon am 7. Juli entscheidet sich, ob die Neofaschisten daraus eine absolute Mehrheit machen. Im wenig demokratischen französischen Mehrheitswahlrecht kann dafür ein Drittel der Stimmen genügen. Dann müsste Macron Bardella zum Regierungschef ernennen. Mit dessen Chefin Marine Le Pen im Hintergrund, Tochter des Parteigründers, Rassisten, Shoah-Leugners und Folteroffiziers (Algerienkrieg) Jean-Marie Le Pen. Spätestens 2027 will die Clan-Erbin in den Elysée-Palast einziehen.

So steht Frankreich zum ersten Mal seit 1940 vor einer rechtsextremen Machtergreifung. Putin und Trump jubeln. Israels ultrarechte Regierung entrichtete der Partei, die ein Ex-Waffen-SS mitgegründet hatte, warme Glückwünsche. Marine Le Pen: «Wir waren nie antisemitisch.» Auf eine Lüge mehr oder weniger kommt es in diesen Zeiten nicht mehr an. 

Revolution und Mini-Jupe

Berlin und Brüssel verfielen in Schock und Schrecken. Kippt Frankreich, werde Europa zerfallen, warnen sie. Faschismus in Frankreich, der Heimat der Menschenrechte, der Aufklärung, der grossen Revolution von 1789, der brillanten Denker und des Mini-Jupe – wie kann das sein? 

Abgesehen davon, dass dieses idyllische Bild Frankreichs lange Geschichte von Rassismus und Kolonialismus kaschiert: Macron zeigt dieser Tage keinerlei Irritation über den Aufstieg der Ultrarechten, auch wenn er lauthals das Gegenteil beteuert. Am Wahltag flanierte der Präsident, herausgeputzt wie Tom Cruise in «Top Gun», durch einen Badeort, Küsschen streuend. Die Rechtsextremen haben vielleicht unappetitliche Manieren, doch Frankreichs Eliten können sehr gut mit ihnen leben. Am Morgen nach der Wahl machte die Pariser Börse Freudensprünge.

@leparisien

Blouson en cuir, casquette et lunettes de soleil, Macron déambule au Touquet après avoir voté.

♬ son original – Le Parisien
Präsident Macron machte am Wahlsonntag einen auf «Top Gun».

In Marseille, in der Pariser Banlieue und anderswo aber herrscht eine Mischung aus Panik, Vorbereitungen aufs Exil und hektischer Mobilisierung. Niemand macht sich Illusionen, zu lange schon häufen sich die Übergriffe rassistischer Schläger, zu ungeniert tobt in den Medien der neue, menschenverachtende Mainstream. In Frankreich sind Dämme gebrochen. Verrückt, wie schnell das gehen kann.

Kommentatoren rätseln, was Macron wohl geritten habe, als er am 9. Juni ohne Not das Parlament auflöste, kaum eine Stunde nachdem die Rechtsextremen bei der Wahl ins Europa-Parlament triumphiert hatten. Allen war klar, dass sie auch die Blitz-Neuwahlen gewinnen würden. Doch die waren, wie wir inzwischen wissen, lange geplant.

Macron wollte sie, um die linke Opposition definitiv zu eliminieren. Der Moment schien günstig. Die Linke hatte seinen neoliberalen Zumutungen über Jahre scharfen Widerstand entgegengesetzt. Doch dann, im EU-Wahlkampf, zerfleischten sie sich. So führte etwa der Kandidat der gebeutelten «Sozialisten» seine Kampagne lieber gegen die «antisemitischen Linksextremen» als gegen die rechten Ultras. Scheinbar endgültige Worte waren gefallen.

 Das wollte der Präsident nutzen. Schon zehn Tage vor der Auflösung hatte Macron begonnen, die gemeinsame Regierung («Cohabitation») mit den Rechtsextremen zu organisieren, indem er Schlüsseljobs neu besetzte. 

Dann prügelten er, seine Minister und seine Abgeordneten drei Wochen lang auf die Linke ein. Ihr Programm sei «extremistisch» (in Wahrheit ist es milde sozialdemokratisch), antisemitisch (es ist antirassistisch), auf die Zerstörung der Republik gerichtet (im Gegenteil, es will die Sicherung demokratischer Grundrechte). Die Hetze gipfelte in der Behauptung Macrons, ein Sieg der Linken würde Frankreich in den «Bürgerkrieg» stürzen. 

Ein Boulevard für die Neofaschisten

Seit er 2017 im Elysée-Palast eingezogen ist, baut Emmanuel Macron dem RN einen Boulevard zur Macht. Le Pen muss dafür kaum etwas tun. Denn der Präsident bespielt all ihre Themen, auch dort, wo er es besser wüsste: Die vermeintlich wachsende Unsicherheit. Die Gefahr der Überfremdung («Verschwörung zur Auswechslung der Bevölkerung»). Den Sozialneid («Profiteure im Sozialsystem»). Die «schwindende Autorität» des Staates. Und so weiter. Macron tut dies nicht nur symbolisch, sondern höhlt mit einer ganzen Batterie von neuen Gesetzen systematisch die Grundrechte und demokratische Freiheiten – unterwegs zum permanenten Ausnahmezustand.

Dafür redet er gerne mit gespaltener Zunge. Seit 2017 hat er, von work gezählt, sieben Mal eine politische Wende zu mehr sozialer Gerechtigkeit versprochen. Um am nächsten Tag bloss noch mehr Diskriminierung anzurichten. 

Kritikerinnen und Kritiker aber lässt er «Islamo-Linksextreme» schimpfen. Der «Präsident der Superreichen» (Volksmund) weiss, wo der Feind sitzt: links, bei den Gewerkschaften, in den Organisationen der Zivilgesellschaft. Überhaupt beim Volk. In den sieben Jahren seiner Amtszeit war Frankreich ständig im Aufruhr. Die Bevölkerung wehrte sich gegen die Rentenreform, gegen die Schliessung von Schulen und Spitälern, die Inflation, die Vernachlässigung ganzer Regionen, gegen die Aushebelung gewerkschaftlicher Rechte und die Uberisierung der Arbeit, gegen den Abbau bei Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, gegen die Kriminalisierung der Klimabewegung. Und gegen die Umverteilung öffentlicher Mittel in private Hände: Allein 2023 flossen 160 Milliarden Euro staatlicher Beihilfe zu den Konzernen, dafür werden die Schlangen vor den Armenküchen immer länger. Das ist der Humus, auf dem die Neofaschisten gedeihen.

Umso üppiger, als Macron den Widerstand der Gesellschaft mit immer härterer Repression durch Polizei und Justiz bricht. Wer Macron liest, hört und ernst nimmt, verstand schon 2016: Dieser Mann denkt, dass eine profitable Wirtschaft einen starken Staat brauche, der die Bevölkerung niederhalte. In seiner Ansprache zur Auflösung am 9. Juni sagte er, er verlange neue «Klarheit», denn seine Reformen seien mit diesem Parlament blockiert. Demokratie nervt, der neoliberale Kapitalismus braucht ein autoritäres Regime. Da kommen ihm die Rechtsextremen gerade recht.

Der kommende Aufstand

Macrons Pläne wären vielleicht aufgegangen, hätte er nicht wieder einmal die wichtigste Kraft ignoriert: die Gesellschaft. Die vielen Millionen Menschen, die in Gewerkschaften, Quartiervereinen, Nachbarschaftshilfe, öffentlichen Diensten, Klimabewegungen, Kulturzirkeln, Gleichstellungsgruppen, Grundrechtorganisationen um ein besseres Leben ringen. Diese Zivilgesellschaft rief jetzt die zerstrittene Linke barsch zur Ordnung. Angeführt von Köpfen wie Sophie Binet, Chefin der Gewerkschaft CGT, verlangten sie ultimativ die Bildung einer neuen Volksfront. In wenigen Stunden unterschrieben 450 000 ein Manifest.

STIMME DER LINKEN EINHEIT: Gewerkschaftschefin Sophie Binet. (Foto: Keystone)

Zur Verblüffung des Präsidenten stand schon am Morgen nach der Auflösung ein neuer links-grüner Block. Eric Coquerel, eine prominente linke Figur (er wurde bereits im ersten Wahlgang wiedergewählt): «Wir können die Wahl noch drehen. Viel zu viel steht auf dem Spiel.»

In einem Marseiller Lokal der Gewerkschaft SUD laufen derweil fiebrige Vorbereitungen für eine Aktion. Sonja, Doktorin der Ökonomie, sieht man an, dass sie drei Wochen rund um die Uhr unterwegs war für die Volksfront. «Gegen die Faschisten», korrigiert sie. «Schon wieder müssen wir das Schlimmste abwenden, statt das Neue zu bauen. Das frustriert.» Drei Wochen Wahlkampf waren zu kurz. «Auch wenn wir am Abend des 7. Juli verlieren, werden wir die Linke nicht mehr aus der Pflicht lassen. Jetzt hat der Kampf wirklich begonnen.»

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