work-Wissen
Idylle? Nein, geraubte Kindheit!

Bis weit ins 20. Jahrhundert ­hinein wurden Kinder und ­Jugendliche ausgebeutet. Einst wussten Eltern nicht, wie die ­Familien sonst überleben ­könnten. Und später dann kam es zu Zwangsarbeit aus «erzieherischen ­Gründen».

ARBEITEN STATT SPIELEN: Dieser Junge muss helfen, die Stickmaschine zu bedienen. 1912, aufgenommen
im Appenzellischen. (Foto: ZVG / Forum Schweizer Geschichte)

Der erste Eindruck im Untergeschoss des Forums Geschichte in Schwyz könnte täuschen: von den ausgestellten Klöppelkissen, Bandwebstühlen und Werkzeugen geht eine Faszination aus. Doch die meisten «Oh»- und «Weisst du noch»-Ausrufe verstummen bald, wenn die dazugehörenden Fakten gelesen werden. Denn die vermeintliche Idylle war zu oft eine Hölle. Nicht nur in den Innerschweizer Kantonen, aus der die Mehrzahl der Beispiele stammt.

DIE HÖLLISCHE IDYLLE

Auf dem Land waren Kinder selbstverständlich in sämtliche Arbeitsabläufe eingebunden. Im ländlichen Schwyz halfen sie beim Viehhüten, Stall­ausmisten und Heuen. Bemerkenswert sind etwa die Schilderungen aus Rothenthurm, wo Kinder die gefährliche Arbeit des «Ischä», des Eisabbaus im Winter, verrichten mussten. Mit grossen Pickeln mussten sie Eisschollen aus zugefrorenen Weihern heraushauen und zu Verladerampen transportieren, damit das Eis später als Kühlmittel verkauft werden konnte.

In Gersau wiederum waren viele Kinder in der Seidenindustrie tätig. In den Fabriken mussten erst 12jährige Mädchen lange Arbeitstage an den Maschinen verbringen. Dutzende von Minderjährigen lebten «praktischerweise» gleich im firmeninternen «Arbeiterinnenheim».

Im Klosterdorf Einsiedeln kolorierten Kinder Heiligenbildchen für die Pilgerinnen und Pilger – eine heikle Feinarbeit, die die Hände der Kinder verlangte.

FABRIK-BARONE UND ANDERE AUSBEUTER

Mit dem Aufkommen der Industrialisierung verschärfte sich die Situation für viele Kinder drastisch. Sie wurden von den Fabrikanten als billige und willkommene Arbeitskräfte angesehen und oft unter katastrophalen Umständen ausgebeutet. Besonders spannend sind in der Ausstellung die Einblicke in die durchrationalisierten Produk­tionsabläufe. Die Profite der Fabrikanten und der Verleger genannten Vermittler von Heimarbeit waren enorm. Sie wurden reich und reicher, während die heimarbeitenden Familien sehr schmal durchmussten. Auf zeitgenössischen Bildern ist dies lediglich an der Kleidung der dargestellten ablesbar – «Elendsdarstellungen» waren nicht gefragt. Lange Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden, teilweise gar Nachtarbeit, waren in der Fabrik und zu Hause keine Seltenheit. Die Kinder konnten oft nur noch halbtags oder gar nicht mehr zur Schule.

SCHWARZE BRÜDER

Am schlimmsten traf es die sogenannten Fremdplatzierten – Kinder, die von zu Hause weggeschickt wurden, weil die Familien zu arm waren, um sie zu ernähren. Die Bündner «Schwabenkinder» wurden unter unmenschlichen Bedingungen auf schwäbischen Bauernhöfen ausgebeutet und gedemütigt. Kaum besser erging es den Tessiner «Spazzacamini», die nach Italien geschickt wurden, um dort als «lebendige Besen» in verräucherte Kamine zu kriechen. Das sozialistische Autorenpaar Lisa Tetzner und Kurt Held hat ihnen im Kinderbuch «Die schwarzen Brüder» ein Denkmal gesetzt.

Zwar wurde die Schule im Jahr 1874 obligatorisch, und das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 verbot Kinderarbeit unter 14 Jahren. Doch insbesondere in ärmeren und abgelegenen Regionen wurde diese neue Gesetzeslage häufig umgangen. Kinder arbeiteten bisweilen weiter, sei es in der heimischen Landwirtschaft oder in der weit verbreiteten Heimarbeit, wo die Regeln weniger strikt durchgesetzt wurden. Zahlreiche Familien kauften sich Handstickmaschinen und liessen ihre Kinder zu Hause unter ähnlich belastenden Bedingungen wie zuvor in den Fabriken arbeiten.

Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts ging die ausbeuterische Kinderarbeit in der Schweiz allmählich zurück. Doch noch bis in die 1980er Jahre wurden Kinder aus «schwierigen Verhältnissen» unter dem Vorwand «erzieherischer Massnahmen» faktisch zur Arbeit gezwungen (work berichtete).

KEINE VERGANGENHEIT

Nach dem Rundgang durch die Ausstellung schauen die Besuchenden die alten Klöppelkissen, Bandwebstühle und Werkzeuge anders an. Und die «Oh»- und «Weisst du noch»-Ausrufe sind längst einer gewissen Beklemmtheit gewichen. Spätestens dann, wenn zum Schluss noch aufgezeigt wird, wie Kinder weltweit auch heute noch als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Und auch Schweizer Firmen aus ihrem Leid Profit schlagen.

Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert. Forum der Geschichte, Schwyz. Bis 27. Oktober.

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