20 Jahre GAV in der Reinigungsbranche
Meilenstein mit «sehr grossem» Verbesserungspotential

Erst seit zwanzig Jahren kennt die Deutschschweizer Reinigungsindustrie einen einheitlichen Gesamtarbeitsvertrag. Wie es dazu kam, was er gebracht hat – und wie er im Vergleich zu seinen Pendants im Tessin und der Westschweiz abschneidet. Die grosse work-Jubiläumsbilanz.

Quelle: Unia

Er sei ein «Meilenstein» und «grosser Erfolg für alle Beteiligten». So lobt Allpura den Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für die Deutschschweizer Reinigungsbranche anlässlich dessen 20-Jahr-Jubiläums. Mit dieser Einschätzung ist der Arbeitgeberverband der Gebäudedienstleister nicht allein. Auch die Gewerkschaften Unia, VPOD und Syna ziehen als Vertragspartner eine «positive Bilanz». Am 1. Juli 2004 trat der GAV erstmals in Kraft, wurde seither stetig weiterentwickelt und vom Bundesrat immer wieder für allgemeinverbindlich erklärt. Heute regelt er die Arbeitsbedingungen von etwa 65 000 Personen in 2800 Firmen, die zusammen einen Jahresumsatz von über 2 Milliarden Franken erwirtschaften. Allerdings verweisen die Gewerkschaften in einer gemeinsamen Medienmitteilung auch auf das «Verbesserungspotential» des GAV. Dieses sei «noch sehr gross». Am dringendsten sei der Handlungsbedarf nach wie vor beim Lohn, sagt Stefanie von Cranach, die bei der Unia für die Reinigungsbranche zuständig ist. «Die Branchenlöhne sind eindeutig zu tief.» Zumal Reinigungsarbeit viele Fertigkeiten und spezifische Kenntnisse verlange. Zudem werde zu wenig honoriert, dass es sich um eine körperlich sehr anstrengende Arbeit handle.

Heimtückische Mini-Pensen 

Stefanie von Cranach. (Foto: alb)

Tatsächlich liegen die Reinigungs-Mindestlöhne noch deutlich unter dem, was die Unia allgemein fordert (mindestens 4500 Franken für alle Arbeitnehmenden ohne Lehrabschluss und mindestens 5000 Franken für Ausgebildete). Aktuell beträgt der Reinigungs-Mindestlohn in der tiefsten Kategorie 20.80 Franken pro Stunde. Wie wichtig diese Untergrenze ist, zeigt schon die Quote, die ihn bezieht. Von Cranach: «Nach meiner Erfahrung arbeiten die allermeisten Reinigungskräfte zum Mindestlohn – und das meistens unverändert über Jahre.»

20.80 Franken – das macht im Monat 3785 Franken, sofern man denn Vollzeit angestellt ist. Doch von Cranach sagt: «Gerade in der Unterhaltseinigung sind Klein- und Kleinstpensen sehr weit verbreitet, etwa weil viele Kunden keine Tagesreinigung, sondern nur eine frühmorgens oder nach Büroschluss wollen.» Dies könne gewissen Berufstätigen zwar auch entgegenkommen – etwa Müttern von schulpflichtigen Kindern, die nebenbei das Familieneinkommen aufbessern müssten.

Doch in vielen Fällen begrenzen die Arbeitgeber die Pensen bewusst, um sich die Beiträge an die Pensionskasse sparen zu können. So zumindest erlebt es die Luzerner Unia-Sekretärin Ana Maria Pica, wie sie im work-Interview erzählt. Denn obligatorisch in der zweiten Säule versichert ist nur, wer bei einem Arbeitgeber ein Jahresgehalt von mindestens 22 050 Franken erzielt. Um über die Runden zu kommen, müssen Reinigerinnen dann zwischen mehreren Arbeitgebern hin und her changieren. Und haben im Alter trotzdem keine Pensionskasse. Aber nicht nur deshalb seien die Mini-Pensen für viele Reinigungskräfte ein Problem, sagt von Cranach. Es fehle auch die Planungssicherheit. Denn: «Die viele arbeiten zwar mehr, als ihnen ihr Vertrag garantiert, doch nach oben angepasst werden die Verträge nie. So bleiben die Leute stets im Ungewissen, womit sie Ende Monat rechnen können.»

Vor GAV: 12-Franken-Löhne weit verbreitet

Doch auch gelernte Fachleute mit Vollzeitpensen sind alles andere als auf Rosen gebettet: Ein Fachmann Reinigungstechnik (früher «Gebäudereiniger» genannt) mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (nach dreijähriger Lehre) hat gemäss GAV lediglich 4504 Franken auf sicher. Doch selbst dieser Betrag musste den Unternehmen im Laufe der Jahre kontinuierlich abgerungen werden.

 Unia-Gewerkschafterin Rita Schiavi. (Foto: Alex Spichale)

Rita Schiavi erinnert sich genau. Sie war lange Jahre bei der Unia und bei der Vorgängergewerkschaft GBI für die Reinigung zuständig. Heute sagt sie:

Als ich das Dossier 2003 übernahm, waren Stundenlöhne von 12 Franken noch weit verbreitet.

In den Verhandlungen für einen GAV hätten die Gewerkschaften daher von Beginn an voll auf Lohnverbesserungen gedrängt. Mit einigem Erfolg. Wobei ihnen ein spezifisches Imageproblem geholfen hatte.

20 Jahre Reinigungs-GAV: Die wichtigsten Errungenschaften

  • Allgemeinverbindlichkeit: Der GAV gilt heute sowohl für die grossen als auch die kleinen Unternehmen (ab 5 Mitarbeitenden). Aber auch Kleinstbetriebe mit weniger Angestellten müssen wesentliche Bestimmungen des GAV zwingend anwenden (Lohn, Feiertage, Lohnfortzahlung bei Krankheit und Mutterschaft).
  • Mindestlöhne statt Willkür wie früher. Die Mindestlöhne wurden in 20 Jahren um bis zu 35 Prozent erhöht.
  • 13. Monatslohn: Alle, die länger als drei Monate in einem Betrieb arbeiten, haben ihn auf sicher.
  • Mutterschaftsurlaub: Er wird mit mindestens 80 Prozent des Lohnes bezahlt und dauert 16 Wochen, also zwei Wochen länger, als das Gesetz vorschreibt. 
  • Ferien: Arbeitnehmende ab 50 Jahren und mindestens 5 Dienstjahren haben Anspruch auf fünf Wochen Ferien, eine Woche mehr, als das Gesetz verlangt.
  • Effektive Arbeitszeiterfassung: Die gesamte Zeit, in der die Mitarbeitenden den Firmen zur Verfügung stehen, muss als Arbeitszeit erfasst und bezahlt werden. Abmachungen, dass pro Zimmer oder Gebäude eine bestimmte Zeit zur Verfügung steht, sind nicht zulässig.
  • Bezahlte Reisezeit: Auch die Reisezeit von einem Standort zum anderen muss als Arbeitszeit erfasst und bezahlt werden.
  • Mittagsspesen: Mobile Equipen und Reinigungskräfte ausserhalb ihres üblichen Arbeitsortes erhalten ab 6 Stunden Arbeit pro Tag 16 Franken Mittagsentschädigung.
  • Weiterbildungs- und Sprachkurse: Breites Angebot an kostenlosen Weiterbildungs- und Deutschkursen, seit 2018 bietet die Paritätische Kommission (ZPK) zudem gratis einen GAV-Lehrgang an. Ein Abschluss nach 80 Lektionen erhöht den Stundenlohn um 5 Prozent (1 Franken). Seit 2019 Spezialkurs zu Mobbing, sexueller Belästigung und Diskriminierung.

1990er: Schmuddel-Image half GAV-Geburt

Es war in den 1990er Jahren. Der Neoliberalismus boomte, und das Phänomen Auslagerung war schwer im Trend. Immer mehr Firmen und Institutionen glaubten an ein massives Sparpotential, wenn sie die Reinigung an Externe weitergäben. Grosse Gebäudedienstleister wie der Multi ISS wiederum rochen Milliardenumsätze. Doch sie hatten ein Problem: In der Deutschschweiz galten sechs verschiedene Reinigungs-Regionalverträge mit teils ganz unterschiedlichen Standards. Die Zusammenführung in einen einzigen GAV scheiterte immer wieder. Die Folge: Das Tieflohn-Schmuddel-Image blieb an der Branche hängen. Doch dieses stand ihr nun zunehmend im Weg. Auftraggeber wie die öffentliche Hand verlangten nämlich ein gewisses Mindestniveau bei den Arbeitsbedingungen. Zudem beschloss die EU 2002 die Osterweiterung um zehn Staaten. Mit neuen Arbeitskräften aus Billiglohnländern war ein zusätzlicher Druck auf die Arbeitsbedingungen zu erwarten. Der Druck auf eine Einigung stieg und stieg.

Und so waren einige führende Arbeitgeber endlich bereit, einen einheitlichen GAV mit den Gewerkschaften abzuschliessen. Diese wiederum, darunter die GBI, boten Hand dafür – unter zwei Bedingungen: Die Arbeitsbedingungen im GAV mussten akzeptabel sein, und das Lohnniveau musste sukzessive angehoben werden. Der Plan ging auf, wie die Bilanz nach 20 Jahren zeigt.

Unia boykottiert Tessiner Tieflohn-GAV

Seit 2004 sind die Mindestlöhne um bis zu 35 Prozent angehoben worden. Im Branchenvergleich entspricht das einer der stärksten Lohnsteigerungen überhaupt. Und auch real, also teuerungsbereinigt, sind die Löhne um bis zu 19 Prozent gestiegen. Mit aktuell minimal 20.80 Franken pro Stunde liegt der Deutschschweizer GAV auch über jenem der Westschweiz, wo 20.25 Franken die Untergrenze bilden, sowie über jenem des Tessins, wo bloss 18.05 Franken (oder 3285 Franken im Monat) bezahlt werden müssen. «Viel zu wenig», findet die Unia und weigert sich daher, den Tessiner GAV zu unterzeichnen. Dies im Gegensatz zur christlichen Gewerkschaft OCST; sie stört sich offenbar auch daran nicht, dass Tessiner Reinigungskräfte bei auswärtiger Arbeit keinen Rappen Mittagsspesen erhalten. Zum Vergleich: Der Deutschschweizer GAV garantiert 16 Franken, der Westschweizer sogar 18.50 Franken.

Allerdings schneidet der Deutschschweizer GAV in einem Punkt deutlich schlechter ab als seine Pendants: Anspruch auf eine Krankentaggeldversicherung haben hier nur Arbeitnehmende, die regelmässig wöchentlich mindestens 12,5 Stunden arbeiten. Im Tessin und in der Romandie gibt es diese Hürde nicht, denn auch Arbeitende mit Mini-Pensen haben ein Krankentaggeld auf sicher. Die Reisezeit von einem Standort zum anderen muss wiederum überall als Arbeitszeit erfasst und bezahlt werden. So zumindest steht es in den drei GAV. Die Realitäten sehen indes häufig anders aus.

Kontrollen zeigen: Jede zweite Firma trickst

Die Jahresberichte der Zentralen Paritätischen Kommission Reinigung (ZPK), zuständig für Einhaltung des GAV in der Deutschschweiz, zeigen es jeweils schwarz auf weiss. Zuletzt fürs Jahr 2023: Bei total 293 kontrollierten Schweizer Reinigungsfirmen waren lediglich 96 völlig sauber. Über die Hälfte der kontrollierten Arbeitgeber hatten gegen Lohnbestimmungen und auch gegen Vorschriften zu Arbeitsbedingungen verstossen. Auffällig: Diese sehr hohe Missbrauchsquote ist seit Jahren praktisch unverändert. Und dies, obwohl die ZPK von fehlbaren Arbeitgebern beträchtliche Summen kassiert. Dies in Form von Konventionalstrafen und auferlegten Kontrollkosten. Die Einnahmen daraus wachsen tendenziell sogar – im Jahr 2023 verbuchte die ZPK fast eine halbe Million Franken und damit mehr als das Doppelte wie noch 2015. Unia-Frau von Cranach betont aber: «Es ist nicht so, dass die Verstossquote steigt, sondern der GAV-Vollzug wurde professionalisiert und es gibt heute mehr Kontrollen.»

Für die Unia-Verantwortliche Stefanie von Cranach ist daher klar: «Die Arbeit der Paritätischen Kommissionen ist enorm wichtig. Sie müssen ihre Kontrollen weiter ausbauen können.» Diese Forderung wird sie schon bald bei den Arbeitgebenden deponieren können. Denn Ende 2025 läuft der aktuelle GAV aus, die Neuverhandlungen starten schon im kommenden Winter. Da wird von Cranach auch wieder auf das Zentrale zu sprechen kommen: «Die Löhne müssen rauf!»

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