Buchkritik: Jede Frau
Verantwortlich für sexualisierte Gewalt ist immer und ausnahmslos der Täter

Das neue Buch von Agota Lavoyer rüttelt auf und zeigt: So tief ist sexualisierte Gewalt in unserer Gesellschaft verankert. «Jede Frau» sollte nicht nur jede Frau lesen, sondern einfach alle.

SIE SCHAUT NICHT WEG. Agota Lavoyer schreibt über sexualisierte Gewalt an Frauen. (Foto: Raphaela Graf)

Was bedeutet Victim-Blaming? Was hat Rassismus und Dickenfeindlichkeit mit Sexismus zu tun? Und wo beginnt sexualisierte Gewalt überhaupt? Mit ihrem neuen Buch «Jede Frau – Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normaliiert» klärt Autorin Agota Lavoyer auf. Eine nicht leicht verdauliche und gerade deswegen sehr wichtige Lektüre. Denn die Kernbotschaft von Lavoyer ist: Jede Frau wird in ihrem Leben mit sexualisierter Gewalt konfrontiert. Der Grund ist unser patriarchales System.

Lavoyer steigt steil ein und gibt einen Überblick, was sexualisierte Gewalt ist, wer alles davon betroffen ist und wo die Probleme mit der «Männlichkeit» liegen. Sie beginnt mit: «Sexualisierte Gewalt ist alltäglich und sie betrifft uns alle. Trotzdem will das Reden darüber noch nicht so recht gelingen.» Lavoyer hingegen gelingt das Schreiben über das Thema pointiert und fundiert. Die Lektüre ist für alle geeignet: von der Patriarchatskritikerin bis zum Feminismusanfänger. 

«Hey, Süsse!»

Sexualisierte Gewalt fängt nämlich schon mit Worten an, zum Beispiel mit sexistischen Witzen, grenzüberschreitenden «Komplimenten», abwertenden Worten oder Stalking. Eine Person ohne Zustimmung anzufassen oder sich ihr anzunähern, ist eine weitere Form der Gewalt. Diese gipfelt dann in Vergewaltigungen oder geschlechterbezogenen Tötungsdelikten an Frauen, sogenannten Femiziden.

Lavoyer klärt auf: «Nicht alle Männer tragen zur ‹Rape-Culture› bei, aber viele.» Zum Beispiel diejenigen, die belästigen, nötigen und vergewaltigen. Diejenigen, die Witze über Vergewaltigungen machen. Diejenigen, die Täter-Opfer-Umkehr betreiben. Und diejenigen, die sagen, Feminismus gehe zu weit.

Wer ist verantwortlich für die Gewalt?

Lavoyer zeigt nicht nur aktuelle Probleme auf, sondern auch, wie man bereits mit Kleinigkeiten dem herrschenden Sexismus gegensteuern kann. Dabei steht besonders die Täter- und Opferarbeit im Zentrum. Zu oft wird Opfern von sexualisierter Gewalt eine Mitverantwortung oder gar die ganze Verantwortung zugeschrieben. Dabei zählt die Autorin Mythen auf, die tief in unserer Gesellschaft verankert sind.

Zum Beispiel der Mythos «Provokation»: Opfer von sexualisierter Gewalt seien selber schuld, wenn sie «aufreizende Kleider» tragen. Oder der Mythos «Opferverantwortung», der behauptet, dass Frauen durch «richtiges Verhalten» verhindern, Opfer von Gewalt zu werden. Sowie der Mythos der «Gegenwehr». Jede Person, die Opfer von Gewalt wird, könne sich doch selbständig wehren. All diese Mythen sind laut Lavoyer falsch. Verantwortlich für die Gewalt ist immer und ausnahmslos die gewaltausübende Person.

Die eigene Geschichte

Der Autorin gelingt es, das Ausmass von der Verharmlosung und Normalisierung sexueller Gewalt aufzuzeigen. Sie belegt, wie das hiesige Sexualstrafrecht Opfer nicht genügend schützt, und zeigt auf, welche Verbesserung die Revision bringt. Obwohl mit dem neuformulierten Gesetz Opfer besser geschützt sind, ist Lavoyer überzeugt: Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt wird noch lange dauern. Auch weil es mit Gesetzen nicht getan ist, solange die Kultur sich nicht wandelt. Wie sehr auch die Popkultur sexualisierte Gewalt verharmlost, zeigt ein eigenes Kapitel. Es ist augenöffnend.

Aufrüttelnd und besonders aufwühlend ist das Kapitel «My Story». Lavoyer erzählt dort von ihren eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Denn sie will nicht nur vermitteln, dass das Sprechen über diese Erfahrungen wichtig ist, sondern spricht selbst transparent darüber. Darum: «Jede Frau» sollte nicht nur jede Frau lesen, sondern einfach alle! 

Neues Sexualstrafrecht in Kraft

Seit dem 1. Juli gilt im Sexualstrafrecht «Nein heisst Nein». Doch was alles ändert sich mit der Revision? work gibt einen Überblick über die Gesetzesänderung:

  • Im neuen Sexualstrafrecht gibt es eine revidierte Definition der Vergewaltigung. Neu handelt es sich um eine Vergewaltigung, einen sexuellen Übergriff oder eine sexuelle Nötigung, wenn das Opfer zeigt, dass es mit der Handlung nicht einverstanden ist. Sei es mit Worten, Gesten oder durch das sogenannte «Freezing» – eine Schockstarre. 
  • Neu ist auch das «Stealthing» strafbar. Damit ist gemeint, wenn bei einvernehmlichem Sex eine der beteiligten Personen heimlich oder ohne vorgängiges Einverständnis kein Kondom benutzt oder dies währenddessen entfernt.
  • Zudem können mit dem neuen Gesetz auch Männer rechtlich Opfer von Vergewaltigungen werden. Im alten Sexualstrafrecht galt nur «die Penetration von Personen weiblichen Geschlechts» als Vergewaltigung. 
  • Und minderjährige Opfer von Sexualstraftaten sind mit dem neuen Gesetz besser geschützt. Die Strafen für sexuelle Handlungen mit Kindern wurden verschärft, und es gelten strengere Bestimmungen rund um das Thema Kinderpornographie.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.