Hilferuf aus den Frauenhäusern
Während der Fussball-EM steigt die häusliche Gewalt 

Europa ist im Fussballfieber. Doch das Turnier hat auch Schattenseiten. Studien belegen einen rasanten Anstieg von Gewalt an Frauen. Warum das gerade die Schweizer Frauenhäuser an den Anschlag bringt. 

DIE SCHATTENSEITEN DER EM. Während der EM kommt es vermehrt zu Gewalt. (Montage: work)

Eine Studie aus England zeigt es schwarz auf weiss: Während grosser Turniere wie der Welt- oder Europameisterschaft im Männerfussball erhöht sich die Gewalt an Frauen massiv. Konkret analysierte die Studie die Fussball-Weltmeisterschaften von 2002, 2006 und 2010. Das Resultat: Bei Siegen der englischen Nationalmannschaft stieg die Zahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt um 26 Prozent. Bei verlorenen Spielen stieg sie sogar um 38 Prozent.

Und mit dem Start der laufenden EM verzeichnete etwa die Berliner Polizei einen markanten Anstieg an häuslicher Gewalt, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet. Die Frauenorganisation UN Women Deutschland fordert daher politische Massnahmen. Die Vorsitzende Elke Ferner sagt:  

Durch Studien wissen wir, dass während grosser Fussballturniere die Fälle von Partnerschaftsgewalt steigen. Wir möchten die Gewalt gegen Frauen und Mädchen abseits des Rasens, des Bildschirms und des Public Viewing sichtbar machen.

Fussballverein in der Verantwortung

Auch in der Schweiz hat die EM Einfluss auf die häusliche Gewalt. Julia Meier von der Organisation Brava ist über den Anstieg von Gewalt gegen Frauen während der EM nicht überrascht: «Die Fussball-EM der Männer kann durchaus die häusliche Gewalt steigern. Umso wichtiger ist es, dass Fussballvereine, Fanclubs und die Organisierenden solcher Turniere Verantwortung übernehmen und gegen Gewalt an Frauen vorgehen.» Laut Brava braucht es bezüglich Gewalt an Frauen dringend mehr Prävention, Täterarbeit, Schutzmassnahmen, geschultes Polizeipersonal, finanzielle Ressourcen – und das nicht nur in Bezug auf Männerfussball.

Auch Blertë Berisha, Co-Geschäftsleiterin der Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein, bestätigt: «Wir müssen leider damit rechnen, dass solche männerdominierten Ereignisse wie die Fussball-EM zu noch mehr häuslicher Gewalt führen. Für uns ist das nichts Neues.» Im Fussball gibt es laut Berisha ein grundsätzliches Sexismusproblem. Als ein besonders gravierendes Beispiel nennt sie den Winterthurer Transpi-Skandal aus dem Jahr 2019. Damals hisste die Fankurve des FC Schaffhausen auf der Winterthurer Schützenwiese ein Banner mit dem Spruch «Winti Fraue, figgä und verhaue», eine klare Gewalt- und Vergewaltigungsdrohung. Im Strafprozess am Winterthurer Obergericht im Januar dieses Jahres kamen die gewaltbereiten Fans ungestraft davon. Dazu Berisha:

Vereine müssen für misogynes und diskriminierendes Verhalten strikt Verantwortung übernehmen. Im Sport und in vielen anderen Bereichen braucht es noch sehr viel Aufklärungsarbeit und eine Nulltoleranz bei Sexismus, Rassismus und weiteren Diskriminierungen.

Schweizer Frauenhäuser an Kapazitätsgrenze

Wie prekär die Lage für gewaltbetroffene Frauen ist, zeigt die aktuelle Situation bei den Frauenhäusern in der Schweiz und Liechtenstein. Blertë Berisha: «Zurzeit herrscht bei uns ein akuter Mangel an Schutzplätzen. Das bedeutet, dass viele Frauen häuslicher Gewalt schutzlos ausgesetzt sind und dies im allerschlimmsten Fall zu Femiziden führt.» In einer Medienmitteilung informierte die Organisation erst kürzlich darüber, dass die Mehrheit der Schutzunterkünfte bereits komplett belegt seien. 

Femizide

Im laufenden Jahr kam es in der Schweiz bereits zu neun Femiziden. Das sind Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. In den letzten Jahren wurde im Schnitt jede zweite Woche eine Frau von ihrem Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet. Und das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau zählte 2019 jede Woche einen versuchten Femizid. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Die Rechercheplattform «Stop Femizid» erfasst alle bekannten Femizide in der Schweiz bereits seit mehreren Jahren. Wer von häuslicher Gewalt weiss oder selbst betroffen ist, findet hier Hilfe.

Mehrere Faktoren führen aktuell dazu, dass die Frauenhäuser aus allen Nähten platzen. «In erster Linie fehlen uns Plätze und deren gesicherte Finanzierung», sagt Berisha. Die Schweiz erfülle die Anforderungen der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen nicht, obwohl sie die Konvention unterzeichnet habe. Würde die Schweiz der Konvention tatsächlich nachkommen wollen, müsste sie dreimal mehr Schutzplätze anbieten als heute. 

Zudem stellt Berisha klar, dass Frauenhäuser aufgrund fehlender Ressourcen nicht immer allen Bedürfnissen entsprechen können. So seien Frauenhäuser keine adäquate Einrichtung für Frauen, die gleichzeitig von häuslicher Gewalt und Substanzabhängigkeit betroffen sind – «weil das Personal ihre Begleitung und Betreuung mangels Ressourcen nicht leisten kann». Weiter könne nicht jedes Frauenhaus den Bedürfnissen von trans, nichtbinären oder intergeschlechtlichen Personen entsprechen. Für all diese Gruppen seien spezifische Schutzplätze nötig. Doch das Angebot sei absolut ungenügend: «In der gesamten Schweiz gibt es ein einziges Schutzhaus für gewaltbetroffene Mädchen. Und für Menschen mit Behinderung, die stark von Gewalt betroffen sind, gibt es gar keine adäquate Schutzeinrichtung.» 

«Diese Gewalt ist klar kein Ausländerproblem»

Eines zeigen die Zahlen deutlich: In den Schweizer Frauenhäusern suchen Gewaltopfer mit ganz unterschiedlichem Hintergrund Schutz. Junge, Alte, Schweizerinnen, Ausländerinnen, Reiche, Arme. Bloss bei der Täterschaft gebe es eine Stringenz: Laut Berisha handelt es sich in 93 Prozent der Fälle um Männer. Berisha betont daher, dass das Thema Gewalt an Frauen sich nicht für ausländerfeindliche oder rassistische Stimmungsmache eigne. «Diese Gewalt ist klar und deutlich kein Ausländerproblem!» Zwar suchten Frauen, die erst seit kurzem in die Schweiz leben, öfters Schutz in Frauenhäusern. Dies aber primär deshalb, weil sie strukturell und institutionell benachteiligt seien.

Sie haben noch kein Netzwerk, kennen ihre Rechte kaum und finden nicht so einfach eine eigene Wohnung.

Schliesslich zeigt Berisha auch auf, dass Männer mit Migrationsgeschichte etwa aufgrund rassistischer Strukturen bei Polizei und Justiz häufiger zur Rechenschaft gezogen werden. Berisha: «Weisse Täter ohne Migrationsgeschichte wissen, wie sie sich aus der Verantwortung ziehen können, denn sie haben ein Netzwerk, Geld, kennen ihre Rechte und werden von anderen Männern gedeckt und unterstützt.» Für Berisha ist jedenfalls klar: «Alle Täter von häuslicher Gewalt, unabhängig von Klasse und Migrationskontext, müssen gleichermassen zur Verantwortung gezogen werden.» So auch im Fussball: Für die Gewalt an Frauen braucht es eine Nulltoleranz, unabhängig von Alkoholeinfluss oder starken Emotionen.

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