«Hotelkrippe» in St. Gallen: unprofessionell und unverantwortlich
Wie der Verdacht auf einen sexuellen Übergriff eine Karriere zerstörte

Daniel Schärer wurde des sexuellen Übergriffes verdächtigt. Zwar stellte sich der Vorwurf als haltlos heraus. Doch die Kita-Leitung hatte ihn bereits fallengelassen.

GEPRÄGT: Der zu unrecht beschuldigte Betreuer sagt, die «Hotelkrippe» habe ihm die Freude an seinem Beruf komplett zerstört. (Symbolbild: Keystone / Illustration: work)

Den 20. Juni 2023 wird Daniel Schärer* wohl nie mehr vergessen. In der «Hotelkrippe» in St. Gallen, wo er als Fachmann Betreuung arbeitet, hat ihn schon am Abend vorher die Personalverantwortliche zu einem Gespräch zitiert. Den ganzen Abend fragt er sich, worum es wohl gehe.

Am nächsten Morgen erwarten ihn gleich drei Personen im Büro der Personalfrau: Sarah Bösch, Leiterin der Krippe und umtriebige Ex-SVP-Politikerin (siehe Text unten), dazu ein Anwalt und Böschs Stellvertreterin. Sie wird das Gespräch schriftlich festhalten. Chefin Bösch teilt dem damals 21jährigen mit, am Abend zuvor hätten sich Eltern gemeldet. Sie hätten den Verdacht, er habe ihren knapp dreijährigen Sohn auf sexuelle Art im Intimbereich berührt. Denn der habe beim Wickeln mehrmals «Dino, Mund auf» gesagt und auf seinen Penis gezeigt. Und auf die Frage der Eltern, ob ihn dort jemand berührt habe, Schärers Namen genannt. 

Das habe ihm, sagt er, «den Boden unter den Füssen weggezogen». Zwar habe er klar gesagt, dass er nichts dergleichen getan habe. Sah sich aber im Gespräch in der unmöglichen Position, seine Unschuld beweisen zu müssen. Rückblickend sagt er:

Ich war völlig überfordert.

Doch Bösch habe auf eine Lösung gedrängt. Sie habe ihm, so Schärer, eine bereits vorbereitete schriftliche Vereinbarung vorgelegt, wonach die «Hotelkrippe» und der Betreuer das Arbeitsverhältnis «im gegenseitigen Einverständnis» auflösen. Schärer liess sich überreden und unterschrieb. In der Gesprächsnotiz der Krippe steht: «kein weiterer Gesprächs-/Handlungsbedarf».

Schärer ist Unia-Mitglied und wendet sich nun an die Gewerkschaft. Rasch wird klar: Das Vorgehen der «Hotelkrippe» war nicht rechtens. Der Arbeitgeber darf keinen Druck aufsetzen, eine solche Vereinbarung zu unterzeichnen. Er muss zudem eine angemessene Bedenkfrist gewähren. So hat das Bundesgericht geurteilt. Die Unia engagiert einen Anwalt, der Schärer gegenüber der «Hotelkrippe» vertritt. Der Fachmann kritisiert auch den Inhalt des Dokuments: 

Eine solche Vereinbarung muss ausgewogen die Interessen beider Parteien berücksichtigen. Wenn der Arbeitnehmer einseitig auf Ansprüche verzichtet, kann dies zur Ungültigkeit der Vereinbarung führen.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Noch schlimmer wiegt der Vorwurf von Daniel Schärer: «Die Krippe hat nichts unternommen, um dem Verdacht nachzugehen. Sie haben mich rausgestellt, damit war die Sache für sie erledigt.»

Der Verband Kinderbetreuung Schweiz (kibesuisse) hat Leitlinien zu Grenzverletzungen erarbeitet. Beim Verdacht auf strafrechtlich relevante Handlungen soll demnach die Leitung «Kontakt zu Fachstellen und Behörden herstellen und die weiteren Schritte planen und initiieren». Denn, so Verbandssprecher Maximiliano Wepfer zu work:

Eine Opferberatungsstelle oder auch die Polizei hat Profis für genau solche Fälle. Die Kita-Leitung hat dafür nicht das nötige Know-how.

Mit dem Vorgehen der Leitung war auch den Eltern des Kindes nicht geholfen. Sie wollten, dass «dem Vorfall nachgegangen wird», so eine Notiz in Daniel Schärers Personaldossier, das «work» vorliegt. Offensichtlich ist das nicht geschehen. Denn fünf Tage später doppelt der Vater schriftlich nach: «Für uns macht es den Anschein», schreibt er an die Kita-Leiterin Sarah Bösch, dass die Sache «unter den Teppich gekehrt und möglichst ruhig und leise geregelt werden soll.»

Nach weiteren drei Wochen erstatten die Eltern schliesslich Anzeige. Darüber sei er heute froh, sagt Schärer: «Nur so wurde die Sache gründlich untersucht!» Die Polizei befragt die Mutter, Bösch als Chefin und den Beschuldigten. Am 4. Oktober entscheidet die Staatsanwaltschaft: Verfahren eingestellt. Es habe sich «kein Tatverdacht erhärtet», so die Staatsanwältin. 

Wieder in einer Kita arbeiten? Nicht geschenkt

Danach verhandelt Schärers Anwalt mit der Krippe. Sie zahlt ihm schliesslich die anderthalb Monatslöhne nach, die ihm bei einer regulären Kündigung zugestanden hätten. Ein schwacher Trost. Denn er sagt mit Nachdruck:

Ich will nie mehr in einer Kita arbeiten. Ich weiss, so etwas kann jederzeit wieder passieren.

Die «Hotelkrippe» habe ihm die Freude an seinem Beruf komplett zerstört.

Heute arbeitet er in der Administration einer Arztpraxis und sagt, er habe mit der Sache abgeschlossen. Trotzdem hat er sich entschieden, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen: «Den Kindern zuliebe, die dort immer noch betreut werden.» Denn, und das ist ihm wichtig: Was ihm passiert ist, sei nur der letzte und schwerwiegendste in einer ganzen Reihe von Missständen in der «Hotelkrippe». 

Ständig sei zu wenig Personal eingeteilt gewesen, so Schärer. Pro Gruppe mit bis zu 13 Kindern jeweils nur eine gelernte Fachperson, der Rest seien Lernende und Praktikantinnen gewesen. Diese hätten zudem oft Kinder von weit her abholen müssen: «Vor dem Mittagessen musste ich regelmässig alleine zu den Kindern schauen. Daneben den Tisch decken und alles für den Mittagsschlaf bereitmachen. Ich konnte unmöglich allen Kindern gerecht werden.» 

Eine andere Folge des zu knapp bemessenen Personals: Üblicherweise, so Schärer, gehe man in einer Kita einmal täglich mit den Kindern nach draussen. «In der ‹Hotelkrippe› wurde das nur etwa einmal pro Monat gemacht.»

Was sagt die Krippenleiterin Sarah Bösch dazu? Nichts. Bis Redaktionsschluss hat sie die Fragen von work nicht beantwortet.

*Name geändert


Provokationen, Promille und PolitikKrippenleiterin Sarah Bösch ist eine schillernde Figur

Die Gründerin und Geschäftsführerin der «Hotelkrippe» ist im Kanton St. Gallen keine Unbekannte. Diesen Frühling kandidierte Sarah Bösch als Parteilose für den Regierungsrat. Gewählt wurde sie nicht, freute sich aber auf Facebook über die 24 000 Stimmen, die sie erhalten hatte. Ihr Cover-Bild: farbige Tulpen.

Vor rund zehn Jahren herrscht auf Böschs Facebook-Profil dagegen ein rauer Ton. Als aufstrebende SVP-Jungpolitikerin schimpft sie lauthals. Über ausländische Drogendealer, «Kuscheljustiz» oder zu langsame Autofahrer. Und sie fragt sich, warum «Politessen unglaublich hässlich» seien, und zwar «im Charakter» und «oft auch» im Aussehen. 

Sarah Bösch am Wahlsonntag in St. Gallen. (Foto: Keystone)

Offensichtlich kommt sie damit bei rechten Wählerinnen und Wählern an. 2015 wird sie für die SVP ins Stadtparlament von Wil SG gewählt. Dass dies nicht der Anfang einer glanzvollen Politkarriere ist, sondern ihr bisher einziges politisches Amt, das sie zudem nach weniger als sechs Monaten wieder verlassen wird – das ahnt damals noch niemand.

Als Blaufahrerin motzen

Doch Bösch sorgt mit ungehobelten Facebook-Posts für mehr Aufmerksamkeit, als ihr lieb ist. Am 12. April gerät sie in eine Polizeikontrolle und muss zum Alkoholtest. Genervt motzt sie online über die «krasse Bürokratie». Sie werde von den Polizisten «begleitet wie ein Sträfling». Dabei fühle sie sich «munter, frisch, spüre null Promille!» Dumm nur: Der Test zeigt über 0,8 Promille an. Bösch muss den Fahrausweis abgeben. Für den «Blick» ist sie jetzt die «Bier-Bösch».

Rausschmiss am Zürichsee…

Schlimmer noch: Es kommt heraus, dass Bösch schon zuvor im Kanton Zürich für gewaltigen Ärger gesorgt hat. Bereits damals ging es um eine Kindertagesstätte. In der Zürichseegemeinde Kilchberg hatte die SVP Bösch zunächst zur Wahl in die Schulkommission aufgestellt. Bösch wurde nicht gewählt. 2013 begann sie, Spenden für das Projekt «Alpeglöggli» zu sammeln, die erste Tagesstätte für behinderte Kleinkinder in der Schweiz. Mit ihrer «charmanten, schelmischen Art», so der «Blick», habe Bösch Bekannten und SVP-Mitgliedern «das Geld aus der Tasche gezogen». Der einzige, der sich als Opfer outete, war Andreas Glarner, der notorische Pöbler der Partei. Seine Spende von 5000 Franken sei nie beim Projekt angekommen. Das «Alpeglöggli» floppte nach kurzer Zeit, die SVP Kilchberg schmiss Bösch aus der Ortssektion, und die Zürcher Kantonalpartei lehnte sie als Mitglied ab. Wegen «gewisser Unregelmässigkeiten», so der Parteisekretär 2015 gegenüber dem «Tages-Anzeiger».

Diese Enthüllungen und ihre Pöbel-Posts als Blaufahrerin lösen sogar bei der SVP Wil ein Stirnrunzeln aus, sie distanziert sich von Bösch. Diese lenkt zunächst ein und entschuldigt sich bei der Polizei (natürlich erneut auf Facebook). Lässt aber keine zehn Tage später die nächste Bombe platzen. Ohne Rücksprache mit den Parteioberen gibt sie dem «Blick» ein Interview und verkündet: «Ich möchte gerne für den Kantonsrat kandidieren.»

…und in der Ostschweiz

Das ist zu viel. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren wird Bösch hochkant aus der SVP geworfen. Diesmal von der Fraktion. Einstimmig.

Ihre politische Ambition scheint davon unbeeindruckt. Im Sommer 2015, keine drei Monate später, kündigt sie ihre Kandidatur als Parteilose für den Nationalrat an. 2016 tritt sie für den Kantonsrat an, 2019 gar für den Ständerat, als Nachfolgerin von Karin Keller-Sutter. 2024 will sie in die Kantonsregierung. Obwohl sie keine reellen Wahlchancen hat, bringen ihr diese Kandidaturen Aufmerksamkeit in den regionalen Medien. 

Und in diesen Medien machte vor wenigen Tagen eine Meldung aus dem St. Galler Rheintal die Runde. In der Gemeinde Balgach finden diesen September Wahlen statt. Und der wenig überraschende Titel der Meldung: «Sarah Bösch will Gemeindepräsidentin werden.» (che)

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