Überraschung bei den Wahlen in Frankreich
«Wir haben euch im Auge!»

Ein Aufstand von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft hat die Machtübernahme der französischen Neofaschisten abgewendet. Vorerst.

Der Schrei aus tausend Kehlen steigt in den heissen Abendhimmel von Marseille. Sie sind an den Alten Hafen gekommen, sagt Samira, «um nicht allein zu sein, wenn die Faschisten das Land übernehmen». Medien und Meinungsforscher hatten dem Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen eine Mehrheit versprochen, möglicherweise sogar die absolute Mehrheit. Den Menschen also Diskriminierung, rassistische Gewalt, soziales Elend, Frauen- und Schwulenhass, Repression. Bei manchen sind die Koffer fürs Exil bereits gepackt.

Um den Hafen und vor der Präfektur hat das Innenministerium Polizisten in Vollmontur postiert. Sie sollen jeden Protest gegen einen Wahlsieg der Rechtsextremen sofort brechen. 72 Prozent der Polizistinnen und Polizisten wählen RN. Bei der Unterdrückung der Quartierrevolten vor einem Jahr haben sie in Marseille zwei Demonstranten getötet.

Punkt 20 Uhr kommt die Hochrechnung. Die Neofaschisten sind geschlagen, schwer geschlagen, bei hoher Wahlbeteiligung. Gewonnen hat die linksgrüne Neue Volksfront (NFP). Sie ist kaum vier Wochen alt. Ein Schrei immenser Erleichterung, ein Moment der Ungläubigkeit («kann das sein?»), und dann tanzen die Menschen. Marseille, ein Fest fürs Leben.

«Dies ist eine Revolution des Volkes»

Noch einmal davongekommen. Achraf Manar, 26, hat vor drei Jahren die Organisation «Destins liés» gegründet. Sie will Jugendliche aus den französischen Vorstädten in Job und Gesellschaft ermächtigen. Am Wahlabend sagt er im Internetmedium Mediapart:

Faschismus ist keine eingebildete Krankheit. Wir sind heute nur um einen Hauch an der Katastrophe vorbeigeschrammt.

Jetzt braucht Manar eine Nacht Schlaf. Seit der Auflösung des Parlaments durch Präsident Macron am 9. Juni war er rund um die Uhr auf Achse, organisierte Aktionen und Konzerte, klopfte an Türen, suchte das Gespräch mit RN-Wählerinnen und -Wählern. Und mit den vielen, die von Politik längst nichts mehr wissen wollen, gerade in den sozial abgehängten Quartieren. 

Es waren keine Wahlen wie andere. Tausende von Frauen und Männern, die in keiner Partei eingeschrieben sind, Gewerkschafterinnen voran, rangen in diesen «traumatisierenden Wochen» gegen die Rechtsextremen, in einem Klima wachsender rechter Gewalt. Manar: «Dies ist eine Revolution des Volkes.» Die Niederlage der Rechten, sagt die prominente Frauenrechtlerin Caroline De Haas, beweise:

Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft wirkt, sie kann mächtig sein.

Mächtig genug, die Pläne des Präsidenten zu vereiteln. Emmanuel Macron hatte die Neofaschisten jahrelang hochgespielt (work berichtete). Er war bereit, die Macht mit ihnen zu teilen, um dann, als «Retter der Republik» drapiert, seine verschärft neoliberalen Reformen durchzusetzen. 

Die Einsamkeit des Präsidenten 

In sein trübes Spiel dachte Macron sogar den rechten Rand der Sozis und der Grünen einzubinden. In der Nacht der Auflösung waren Macrons Emissäre mit Angeboten unterwegs. Sie kamen zu spät. Gewerkschaften und die organisierte Gesellschaft hatten den linken Parteien klargemacht: Rauft ihr euch nicht zusammen, treibt ihr die üblichen Spiele, seid ihr politisch tot. Am Morgen stand die Neue Volksfront. Darauf bezichtigte sie Macron des Extremismus («Feinde der Republik») und der «Immigrationitis». Dieser Mann verspielte seinen allerletzten Kredit.

Doch da ist etwas geschehen, dessen Wucht wir wohl erst in einigen Monaten lesen können: Die Linien zwischen Politik und Gesellschaft haben sich verschoben, die engagierten Bürgerinnen und Bürger überlassen die Politik nicht mehr den linken Parteien. «Wir sind es leid. Wir sind zornig. Wir haben euch im Auge» ist dieser Tage ein oft gesprochener Satz.

DIE LINKEN WERDEN DIE STÄRKSTE KRAFT! Auf dem Platz der Republik in Paris feierten zehntausende Menschen den Sieg. (Foto: keystone)

Denn allein hätte die Neue Volksfront die Neofaschisten kaum besiegt. Wären da nicht die Riesen-Feten der freien Medien um Mediapart auf dem Platz der Republik in Paris und in Hunderten von Städten gewesen. Das Manifest der 1000 Historikerinnen und Historiker. Der Aufruf von 200 Juristinnen und Juristen (deren Namen eine rechtsextreme Gruppe sofort auf ihre «Abschussliste» setzte). Die Unterstützung durch Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, die Spitzenfussballer Mbappé und Thuram und zahllose Prominenz aus Film und Musik. Und das abrupte Erwachen der Social-Media-Szene: So machte etwa eine bekannte Youtuberin ihre Seite für Schmink-Tutorials zum Kampfplatz gegen Rassismus. 

Rasch zerbröselte die neue Respektabilität der Neofaschisten. Medien deckten auf: Über 100 RN-Kandidatinnen und Kandidaten hatten antisemitische, rassistische, verschwörungstheoretische Behauptungen oder Handlungen begangen, grüssten mit Heil-Hitler, feierten ihren Geldgeber Wladimir Putin oder riefen zum Mord an Migranten und politischen Gegnerinnen. Jetzt standen sie im grellen Licht. «Vereinzelte schwarze Schafe», beschwichtigte RN-Chef Jordan Bardella. 41 dieser «schwarzen Schafe», eine ganze Herde, sitzen für die Rechtsextremen im neuen Parlament.   

Den ersten Wahlgang dominierten die rechten Ultras noch. Da tat die Neue Volksfront das Entscheidende: Sie zog in allen Wahlkreisen, die das RN gewinnen konnte, ihre Kandidatinnen und Kandidaten zugunsten von besser platzierten Macronistinnen oder Gaullisten zurück. So errichteten sie eine «republikanische Brandmauer» gegen den Faschismus. 

Das Monster lebt

Damit rettete die Linke Demokratie und Republik. Wie schon 2017 und 2022. Doch der Preis ist hoch. Zwar wurde die NFP erste politische Kraft, mit 182 Sitzen aber ohne dominante Mehrheit. Die ungeliebten Macronisten verloren 86 Abgeordnete, doch retteten überraschend 156 Sitze – über 100 davon dank dem Rückzug der Linken.

DIE DREI LAGER. Violett: NFP, Orange: Ensemble (Macron), Braun: RN.

Was Emmanuel Macron nicht vom Versuch abhält, den Wahlsieg der NFP zu saboitieren. Eigentlich müsste er, so will es die Usanz, die Linke sofort mit der Regierungsbildung beauftragen. Doch der Präsident spielt auf Zeit, will mit Tricks und Intrigen die Neue Volksfront hinhalten, um sie besser zu spalten. Wann Frankreich eine Regierung bekommt, weiss am 9. Juli morgens niemand.

Alles Wasser auf die Mühle der Rechtsextremen. Sie haben verloren, aber mit 142 Sitzen ihre Vertretung fast verdoppelt. Nun fliessen ihnen viele Millionen öffentlichen Geldes zu. Und sie geben ihre liebste Rolle – die des Opfers einer grossen Verschwörung. Das zieht. 

RN-Präsident Jordan Bardella schien in seiner Rede zur Niederlage ziemlich erleichtert, noch nicht regieren zu müssen (auch wenn sein Mund das Gegenteil sprach). In Wahrheit sitzen die Neofaschisten längst im Herzen des Establishments. Sie haben die rassistische Rede entfesselt, die soziale Diskriminierung zu einer Norm gemacht. Das Monster lebt. Es spinnt gerade das Märchen von der «gestohlenen Wahl». Spätestens 2027 will es alle Macht. 

 Selbst im Trubel der Siegerparty war dies Aktivistinnen wie Lunar Lapray deutlich vor Augen: «Heute haben wir uns nur einen Aufschub gekauft.» Bleibt die Mobilisierung nicht stark, wird dieser Aufschub kurz ausfallen. In der «Coalition 2024», wo sich Dutzende Organisationen der Zivilgesellschaft gefunden haben, will man die Linke nun eng begleiten, «um sie in die Gesellschaft zurückzuholen». Überall hören wir denselben Satz, den Achraf Manar nach der Wahl so formulierte:  «Heute beginnt der Kampf erst.»

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