Filmemacher Samir präsentiert seinen neusten Film über Saisonniers aus Italien
«Als ich in die Schweiz kam, gab es in der Migros weder Zucchini noch Auberginen»

Versteckte Kinder, ­windige Baracken, ein fliegender ­Teppich und modernste Game-Technik: das ist der Stoff, aus dem Filmemacher Samirs neuste Doku über ­Saisonniers gemacht ist.

REGISSEUR SAMIR AM FILMGESTIVAL IN LOCARNO: «Für den Film habe ich alle wichtigen Momente der Arbeiterbewegung in den 1960er und 1970er Jahren aus der Sicht der Migrantinnen und Migranten recherchiert. Und da fiel mir auf, dass ich bei vielen dieser Ereignisse dabei war.»

Mit dem Boom der Nachkriegszeit kamen Millio­nen italienische Arbeiterinnen und Arbeiter in die Schweiz. Viele mussten in Baracken hausen, während sie die moderne Schweiz bauten. Das menschenunwürdige «Saisonnierstatut» riss ihre Familien auseinander. Regisseur Samir, selbst als Kind aus dem Irak in die Schweiz eingewandert, verwebt in seinem neusten Film «Die wundersame Verwand­lung der Arbeiterklasse in Ausländer» seine Geschichte mit jenen der Saisonniers.

work: Kurz vor der Weltpremiere am Filmfestival in Locarno haben Sie Ihren neusten Film in Rom fertiggestellt. Wie lief dieser Endspurt?
Samir: Es war genau wie in den Klischees. Chaotisch, aber alles auf den letzten Moment perfekt ­fertiggestellt. Mit meinen Ansprüchen hätte es in der Schweiz nie geklappt, diese Fülle an Material rechtzeitig zusammenzukriegen.

Wieso Rom?
Wir hatten von Anfang an das Projekt als Co-Produktion mit Italien aufgegleist. Aber dann kam Giorgia Meloni an die Macht und begann, Kulturbeiträge zu kürzen. Meloni ernannte zudem Gennaro Sangiu­liano zum Kulturminister – ein hässlicher, faschistischer Mensch. Und ich dachte, jetzt können wir’s vergessen. Doch dann kam die Zusage des Ministe­riums. Was war geschehen? Der neue Kulturminister musste noch das Budget vom letzten Jahr aus­geben, hatte aber noch keine eigene Filmkommission. Also hat er die alte Kommission mit unserer Anfrage beauftragt – und das sind alles Ex-Kommunisten! ­Natürlich haben sie unser Projekt durchgewunken. Manchmal muss man Glück haben.

Und dann musste es schnell gehen …
Ja, wir mussten die ganze Postproduktion nach ­Italien verlegen. Deswegen waren wir ein bisschen unter Druck.

Doch jetzt von vorne. Wie ist die Idee für den Film entstanden?
Schon lange beschäftigen mich die Veränderungen, die ich in den letzten 70 Jahren miterlebt habe. Wie sich Arbeit und Gesellschaft massiv verändert haben durch die Deindustrialisierung, durch die Migration und durch die Globalisierung. Während der Covidpandemie hatte ich Zeit, die Migrationsgeschichte in der Schweiz zu recherchieren. Und bemerkte: Da bin ich ja ein Teil davon! Da ich aber selber nicht im Film erscheinen konnte, kam die Idee, einen Avatar meine Geschichte erzählen zu lassen.

Und wie ist Ihr Verhältnis zu diesem ­virtuellen Spiegelbild?
Es hat sehr viel Spass gemacht, meinen Avatar ­anhand von alten Fotos nachzubilden. Mein Avatar zeigt im Film Schlüsselmomente meines Lebens, damit man versteht, wie dieser Junge heranwächst als Migrantenbub, als Flüchtlingskind aus dem Irak.

Sie spielen mit dem Klischee des «Arabers». Das zieht sich wie ein roter Faden durch die ­autobiographischen Erzählungen, bis Sie am Ende sogar auf einem fliegenden Teppich in die Freiheit schweben …
… ja, in Richtung des Alpenpanoramas. Mein Avatar befreit sich in dieser Szene aus den Fängen von Polizisten, die ihn verprügeln. Für mich ist das ein Umkehrmoment. Diese Szene hat sich in der Realität natürlich so nie abgespielt. Der Film hat mich befreit von diesen schrecklichen Momenten meines Lebens, in denen ich Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren habe.

Liegt in diesen Erfahrungen die Verflechtung mit der Geschichte der Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Italien?
Für den Film habe ich alle wichtigen Momente der Arbeiterbewegung in den 1960er und 1970er Jahren aus der Sicht der Migrantinnen und Migranten recherchiert. Und da fiel mir auf, dass ich bei vielen dieser Ereignisse dabei war. Zum Beispiel an der grossen Demonstration gegen das Saisonnierstatut in Bern 1971. Da war ich 16 Jahre alt. Und ich war in der Jugendgruppe der Typographen-Gewerkschaft aktiv. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist eigentlich die Geschichte meiner Jugendzeit.

Wie sind Sie zur Gewerkschaft gekommen?
Es ging gar nicht anders! Am ersten Tag meiner Lehre wurde ich angefragt. Bevor ich überhaupt die Probezeit bestanden hatte, war ich in der Gewerkschaft. Es war eine sehr schöne Zeit. Ich fühlte mich in der Jugendgruppe aufgehoben und entdeckte die Berge! Nach dem Zusammenbruch der Druckindustrie ging ich zum Film. Als Filmtechniker trat ich dieser Gewerkschaft bei.

Nicht alle Gewerkschaften waren den ­Migrantinnen und Migranten so freundlich gesinnt.
Die Typografia war eine sehr fortschrittliche Gewerkschaft. Beim Smuv, der damals stärksten Gewerkschaft, wehte ein ganz anderer Wind. Es gab wenig Offenheit für italienische oder spanische ­Arbeiter. Am 1. Mai 1972 sind wir uns in die Haare geraten, weil sie «Tschinggen» beschimpften. Ganze Smuv-Gewerkschaftssektionen stimmten für die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative. Aber es gab auch gute Leute in den Gewerkschaften. Zum Beispiel den späteren SGB-Präsidenten Ezio Canonica, ein Tessiner. Er war einer von uns.

Was war der Grund für diese Fremdenfeindlichkeit in den Gewerkschaften?
Ex-Unia-Präsident Vasco Pedrina sagt im Film, die Schweizer Arbeiter hätten die Saisonniers als Konkurrenten gesehen. Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Ich glaube, viele haben indirekt von den Saisonniers profitiert, weil aufgrund der Hochkonjunktur ihre Löhne stiegen. Und trotzdem waren sie rassistisch. Das ist ein Widerspruch. Nicht im klassisch-marxistischen Sinn, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, sondern das Bewusstsein sollte manchmal auch das Sein bestimmen. Ob jemand rassistisch ist oder nicht, ist auch eine individuelle Entscheidung. Wenn aber eine ganze Organisation nicht gegen den Rassismus kämpft, hilft das den reaktionären Kräften.

Was hat zu einem Umdenken in den Gewerkschaften geführt?
Mittlerweile sind die Gewerkschaften ja die grössten Migrantinnen- und Migrantenorganisationen. Es sind die einzigen Organisationen, die die Realität der Gesellschaft repräsentieren. Die Migration als Grundsatzfrage der Gesellschaft existiert nur bei den Rassisten, die dieses Thema bewirtschaften. Zu einem Umdenken haben junge Funktionäre bei­getragen, die in den 1970er Jahren angetreten sind. Ihnen war klar, dass sich die Gewerkschaften öffnen und für die Unterschichten kämpfen müssen. Sie ­erkannten, dass die Unterschichten praktisch nur noch aus Migrantinnen und Migranten bestanden. Deshalb auch der Filmtitel – die Verwandlung ­­­der Arbeiterklasse ­in Ausländer. Die ­Arbeiterklasse gibt es noch immer, aber man nennt sie jetzt nicht mehr so.

Und was ist an dieser Verwandlung wundersam, wie es im Filmtitel genau heisst?
Der Titel soll irritieren. Es ist ein spielerischer Umgang mit dem Ernsthaften.

Im Film erzählen zahlreiche Protagonistin­nen und Protagonisten von ihren Erfahrungen als Saisonniers in der Schweiz. Wie haben Sie diese Menschen gefunden?
Auch das hat viel mit meiner persönlichen Geschichte zu tun. Viele Leute kenne ich aus meiner Jugendzeit, also von den Demonstrationen, vom 1. Mai, von Gewerkschaftsversammlungen, vom Res­taurant Cooperativo in Zürich. Viele habe ich auch über die Unia und deren Zeitung work gefunden. Ich habe in meiner Jugendzeit in der italienischen Community auch viele Frauen kennengelernt, die als ­Arbeiterinnen extrem selbstbewusst auftraten. Das hat mich sehr beeindruckt, auch weil ich selber aus einer patriarchalischen Struktur komme. Aber leider habe ich von diesen Bekanntschaften praktisch keine mehr wiederfinden können.

Wider die gängigen Klischees migrierten zuerst hauptsächlich Frauen aus Italien in die Schweiz. Wieso?
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Schweizer Textilindustrie einen Aufschwung – weil die Schweizer Industrie intakt war, während sie in den umliegenden Ländern zerstört war. Deshalb wurden ab Ende der 1940er Jahre vermehrt italienische Frauen rekrutiert. Hauptsächlich aus dem Veneto, das damals eine sehr arme Gegend war. Die ganze Ostschweizer Textilindustrie hat italienische Frauen geholt. Mit dem Migrationsabkommen zwischen der Schweiz und Italien von 1964 kamen dann auch viele Männer, um in den Fabriken, im Häuser- und Strassenbau zu arbeiten.

Das «Italienerabkommen» kam zu einer Zeit, als die öffentlichen Debatten um die «Überfremdung» heiss liefen.
Dieser Begriff ist so absurd, so unwissenschaftlich und so polemisch! Er wurde von einem obskuren ­Autor Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden und danach von den schweizerischen Faschisten erstmals verwendet. Danach wurde er gesellschaftsfähig und durch den Druck der reaktionären politischen Bewegungen zum offiziellen Begriff der Behörden.

Das heisst heute nicht mehr «Über­fremdung», sondern zum Beispiel «Zehn-Millionen-Schweiz» …
Genau. Das versuche ich im Film zu zeigen.

Italienerinnen und Italiener bauten in den 1960er und 1970er Jahren das Fundament für den Reichtum der Schweiz. Sie gründeten ­die ersten Kitas, das Erwachsenenbildungsinstitut Ecap usw. Hausen mussten sie aber in desolaten Saisonnier-Baracken, und sie wurden durch eine «stille Apartheid» diskriminiert. Was ist damit gemeint?
Durch Architektur und Planung des Mittellandes, das ja eigentlich eine grosse Stadt ist, gibt es Gegenden, in denen Migrantinnen und Migranten auch heute noch nicht dazugehören – oder schon gar nicht hinkommen. Die Konzentration der Migration auf einzelne Quartiere setzt sich weiter fort. «Bioschweizer» aus der Mittelschicht haben gar keinen Kontakt zu Migrantinnen und Migranten, sondern viel eher zu Expats, also Ausländern, die nicht zur Arbeiterklasse gehören. Die Reinigerinnen, die Leute in den Fabriken, die Strassenarbeiter sind ausserhalb ihres Gesichtsfeldes. Das nenne ich «stille Apartheid». Politiker und Wirtschaftsführer haben keine Ahnung von deren Lebenswelten. Und dieses Nichtwissen, diese Deklassierung einer grossen Schicht dieses Landes, das erschüttert mich.

Aber damals, in den 1960er und 1970er Jahren, war die Apartheid nicht still. Im Film sind Schilder zu sehen mit Aufschriften wie: ­«Eintritt für Italiener verboten».
Damals war es eine offenkundige Diskriminierung. Aber das politische System ist heute schlimmer. Ich selbst würde gar nicht mehr eingebürgert werden. Zugleich ist es absurd: Je älter ich geworden bin, umso «weisser» wurde ich in der Wahrnehmung. Früher war ich ein «Tschingg» oder ein arabischer Terrorist. Heute darfst du ein bisschen anders aussehen, aber nicht zu sehr.

Die Geschichte der italienischen Saisonniers ist aber nicht nur Tragödie, am Ende gewinnt die «Italianità»!
Als ich in die Schweiz kam, gab es in der Migros weder Zucchini noch Auberginen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, das gehört jetzt zur Schweizer Kultur. Die Wissenschaft nennt das einen «Kulturtransfer».

Sie zeigen das am Beispiel der Zürcher ­Langstrasse.
Genau, im ehemaligen Italo-Quartier betreiben jetzt Kurden die Pizzerias. Und in 20 Jahren denken alle, Köfte sei ein Schweizer Nationalgericht.

Aber die Migrantinnen und Migranten, die jetzt in der Schweiz sind, erfahren die gleiche Diskriminierung wie die Italiener damals, wenn nicht sogar noch mehr. Das zeigen Sie im «Epilog». Wiederholt sich hier die Geschichte mit anderen Vorzeichen?
Natürlich ist die Gefahr da, dass sich die Geschichte wiederholt und die nächste Generation wieder Unterdrückung erfahren muss. Aber mein Film zeigt auch, dass wir das ändern können. Indem wir eine andere Auffassung entwickeln über die anderen. Denn diese anderen sind immer wir alle. Ich hoffe, dass ich mit meinem Film dazu beitrage, zu verstehen, dass das kollektive Verständnis eine urmenschliche Sache ist, um Verbesserungen herbeizuführen. Die individualistische Ideologie des aktuellen Systems macht die Menschen einsam.

Samir: Preisgekrönter Regisseur und Aktivist

Samir (deutsch: der Geschichtenerzähler) ist 1955 in Bagdad, Irak, geboren. 1961 kam er in die
Schweiz. Er absolvierte eine Lehre als Typograph, engagierte sich gewerkschaftlich, arbeitete als Kameramann und begann dann seine eigenen Filme zu realisieren. Unter seiner Regie entstanden diverse Serien und Fernsehfi lme.

OSCAR-NOMINATION. 2015 wurde Samirs Dokumentarfilm «Iraqi Odyssey» als Schweizer Kandidatfür eine Oscar-Nomination in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film benannt. Für seine Arbeiten hat Samir zahlreiche Preise erhalten. Sein letzter Film ist «Baghdad in My Shadow» (work berichtete).

Seine neuste Doku «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» kommt am 5. September in die Kinos.

Vorpremiere: Exklusiv für Unia-Mitglieder

ZÜRICH Mo, 26. August, 20.00 Uhr, Riffraff 1

LUZERN: Do, 29. August, 20.00 Uhr, Bourbaki 1

BERN: Fr, 30. August, 20.30 Uhr, Cinemovie 2 (vorgängig Mitgliederanlass)

ST. GALLEN: Di, 3. September, 20.00 Uhr, Kinok

Bei Interesse melden Sie sich bei Ihrer regionalen Unia-Geschäftsstelle.


Berichte von Saisonniers und Secondas Diese Geschichten gehen unter die Haut

Migrantinnen und Migranten aus Italien prägten die Schweiz. Und die Schweiz prägte sie und ihre Familien: durch fremdenfeindliche Haltungen, Demütigung und Schikanen. Das berichten zahlreiche Protagonistinnen und Protagonisten im Dok-Film. work hat vier Zitate herausgepickt.

In meiner Klasse hatte es viele Kinder aus Italien. Und es war wie normal, dass von uns ­niemand aufs Gymnasium gehen würde. Als ich es dann im ersten Anlauf ­tatsächlich nicht ans ­Gymnasium schaffte, sagte die Lehrerin: Ja, das habe sie schon gewusst, dass ich das nicht schaffen würde. Das hat mir einen Kick gegeben, ich wollte es ihr zeigen. Und das habe ich dann auch getan.

Die Kinder, die kein Deutsch sprachen, wurden als nicht intelligent angesehen. Deshalb haben wir uns mit anderen Eltern zusammengetan, um mit den Behörden zu sprechen und ihnen zu sagen: Unsere Kinder sind nicht dumm!

Die progressiven Kräfte in der Gewerkschaft erkannten, dass man so nicht mehr weiterfahren konnte. Zum Glück haben einige führende Gewerkschafter verstanden, dass die Migranten einen immer grösseren Teil der Arbeiterklasse ausmachen. Und haben aus diesem Verständnis heraus begonnen, die Gewerkschaften zu öffnen.

Für die Erneuerung der Aufenthaltsbewilligung bei der Fremdenpolizei musste ich manchmal einen halben Tag lang dort ­warten. Danach musste ich Fragen beantworten wie: ‹Warum sind Sie da? Was machen Sie da? Wo arbeiten Sie? Wie viele Zimmer hat Ihre Wohnung? Was verdienen Sie?› Das war eine furchtbare Demütigung.

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