1x1 der Wirtschaft
Die Löhne stagnieren trotz steigender Produktivität: Wo geht das Geld hin?

Die Stundenlöhne sind in der Schweiz preisbereinigt seit 1991 um 13 Prozent gestiegen, das sagt uns der Lohnindex des Bundesamtes für ­Statistik (BFS). Pro Jahr sind das im Durchschnitt 0,4 Prozent. Dabei gab es zwei längere Phasen, während ­deren die Kaufkraft stagnierte oder sogar zurückging. Die erste war während der 1990er Jahre, als die Nationalbank die Konjunktur mit einer verfehlten Zinspolitik abmurkste und die Schweiz den Anschluss an Europa verlor. Die zweite Stagnationsphase betrifft uns jetzt: Die Kaufkraft der Löhne ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen und sank 2023 unter das Niveau von 2015. Je nach Branche sind die Reallöhne noch ­stärker gesunken.

PRODUKTIVER

Während die Reallöhne in ­diesen gut 30 Jahren um 13 Prozent zunahmen, stieg die ­Arbeitsproduktivität um satte 46 Prozent. Das heisst, pro Arbeitsstunde wurden 46 Prozent mehr Wert in Form von Gütern und Dienstleistungen geschaffen. Und in dieser ­Grössenordnung ist auch das Volkseinkommen gestiegen. Besonders ­rasant stieg die Produktivität seit 2015, also auch während der Pandemiejahre und obwohl die Löhne in dieser Zeit zurückgingen. Wohin ist dieses Geld geflossen?

SPITZENLÖHNE

Profitiert haben davon die Unternehmen, deren Gewinne zunahmen, wie auch die Besitzenden von Kapitalvermögen und Immobilien, deren Werte gestiegen sind. Zudem hat die Lohnindex-Statistik des BFS einen «Makel»: Sie erfasst Strukturveränderungen nur ungenügend. Das heisst, wenn neu eine Branche mit guten Löhnen boomt (z. B. der IT-Sektor), wird das nicht oder erst spät erfasst. Das gilt allerdings auch umgekehrt für neue Tieflohnbranchen wie etwa Uber-Taxi oder Nailstudios. Vor allem wird aber das oberste Lohnprozent, also die allerhöchsten Löhne inkl. Gewinnbeteiligungen, im Lohn­index nicht berücksichtigt. Diese Spitzenlöhne sind auch die einzigen, die in den ­letzten Jahren massiv zulegen konnten. Teilhaben an der steigenden ­Produktivität konnten also neben ­Unternehmen und Vermögenden auch Spitzenverdiener und allenfalls gut­bezahlte Beschäftigte in neuen, ­boomenden Branchen. Die grosse Mehrheit der Lohnabhängigen hin­gegen ging leer aus. Es ist Zeit, den Spiess umzudrehen.

Hans Baumann ist Ökonom und Publizist.

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